D [E UNBEWALT lGTE YER GAN‘Gi NHE [T N SEED GAi’S7E33 WERK Thesis {or Hm Degree of M. A. MICHIGAN STATE UN'WE'RSEW Beate Sulprizio 1962 mar-3313 LIBRARY Michigan State University DIE UNBEWALTIGTE VERGANGENHEIT IN GERD GAISERS WEEK by Beate Sulprizio A THESIS Submitted to Michigan State University in partial fulfillment of the requirements for the degree of MASTER OF ARTS Department of Foreign Languages 1962 III . Sch] INHALTSVERZEICHNIS Seite A. EINFUHRUNG ...........................................‘ 1 .B. DIE UNBEWALTIGTE VERGANGENHEIT IN GERD GAISERS WERK .. 5 I. §;2£_Stimme gggg EB ............................. 14 II. Egg Schiff 1g:§ggg .............................. 31 III. Schlussball ..................................... 48 IV. Gianna aus dem Schatten ......................... 70 V. Aniela .......................................... 79 VI. Von den Farben der vergangenen Tage ............. 87 Co ZUSAMMENFASSUNG ooooooooooooooooooooooooooooeooooooooo 95— D. BIBLIOGRAPHIE 0000000000000000000000000000000000000.0010]- Ein gene Gegenwar Auto? fr deI'n nae? Wirklichl unsicherl lorener I hmnsch 03 ren will verdrang" des Welt: sich los Angst, Q‘ alte We? Uberlief Lebensge er stell zu werde Dhiloson T“““‘ Hans 12~ 8.14 .A. EINFUHRUNG Ein gemeinsames Kennzeichen vieler Literaturwerke der Gegenwart ist die Frage nach dem Dasein. Der moderne Autor fragt nicht mehr nach dem "Sinn des Lebens", son- dern nach der Mbglichkeit des Daseins flberhaupt. Die Wirklichkeit ist fur den modernen Menschen eine sehr unsichere Sache geworden. Er ist heimatlos, "ein ver- lorener Sohn, der die Liebe des Vaters nicht will, ein Mensch ohne Haus, der nicht in das alte Haus zuruckkeh- ren will."1 Gott ist entthront, das Sein durch das Nichts verdrangt. Der Mensch setzt das eigene Ich in die Mitte des Weltalls, von allen bisher gdltigen Ordnungen hat er sich losgesagt. Die Erfahrung von Krieg, Niederlage, Angst, Qual und Grausamkeit haben seinen Glauben an das alte Wahre, die christliche Kultur und abendlandische Uberlieferung, erschuttert. Sein burgerliches Welt- und Lebensgefuhl ist zerstdrt. Nichts ist fibriggeblieben, und er stellt sich die Frags, ob das Leben die Muhe, gelebt zu werden, lohnt oder nicht. Albert Camus hat in seiner phiIOSOphischen Schrift Der Mzthos von Sisyphos die IDans Egon Holthusen, Der unbehauste mensch, Munehen 1955. 3.14 situatic scheint der dazu block ei Stein vo Sisyphos Berges u; Uberlegel bewusst. ker als : keit seiI den er je iS't also auf Erlds Gegenwart gangrene a D33 Wort 88hr 0ft weSenen u Ohne Sich zu laSsen mumh die wandelt w brechen a] 2 Situation des modernen_Menschen dargelegt. Sein Leben scheint sinnlos, so sinnlos wie die Arbeit des Sisyphos, der dazu verurteilt ist, his in alle Ewigkeit einen Fels— block einen Berg hinaufzuwalzen, von dessen Gipfel der Stein von selbst wieder herunterrollt. Trotzdem ist Sisyphos kein unglucklicher Mensch. Auf dem Gipfel des Berges und wahrend seines Abstiegs ist er sich seiner Uberlegenheit und einer grenzenlosen Verachtung der Gdtter bewusst. Da er sein Schicksal auf sich nimmt, ist er star- ker als sein Fels. Er verzweifelt nicht an der Sinnlosig- keit seines Mdhens, sondern wendet sich dem Leben zu, in- dem er jedesmal zu seinem Stein zuruckkehrt. Der mensch ist also in seiner Existenz frei, sobald er ohne Hoffnung auf Erlbsung sein Schicksal akzeptiert. Er meistert die Gegenwart, was jedoch nicht heissen soll, dass er das Ver— gangene abgetan und vergessen hat. Das Wort von der "Bewaltigung der Vergangenheit" wird sehr oft missverstanden. Es bedeutet dann etwa: dem Ge— wesenen unerschrocken ins Auge blicken, ohne zu schaudern, ohne sich dadurch bei der fieisterung der Gegenwart beirren zu lassen. Etwaige Anwandlungen von Schuldgeffihl kbnnen durch die "Wiedergutmachung"in Selbstzufriedenheit ver- wandelt werden. Dagegen gibt es aber Dinge--wie die Ver- brechen an den Juden--die niemals bewaltigt werden kbnnen. 3. Glaubt einer, mit ihnen fertig geworden zu sein, ist er ihnen erst recht die Bewaltigung schuldig geblieben. Die einzig mbgliche Art, solche Dinge zu fiberwinden, bleibt die: sich immer klarer daruber zu werden, dass sie nicht zu bewaltigen sind, sich immer wieder von der Erinnerung daran erschuttern zu lassen und die tragische geschicht- liche Belastung immer von neuem in bestandige Wachsamkeit umzuwerten. Die seit 1945 erschienenen Literaturwerke zum Thema Krieg zeigen alle, wie wenig bisher dieses schreckliche Erleb- nis kunstlerisch bewaltigt worden ist. Eine grosse, alles aberragende Darstellung fehlt noch immer. Die Totalitflt des Krieges ist nicht zu erfassen, es kdnnen immer nur Ausschnitte gegeben werden. So war es bisher nur moglich, sehr subjektiv einiges von dem.ungeheuren Geschehen darzu- stellen, nur ganz persdnliches Erleben zu gestalten. Viele den Krieg behandelnde Werke sind schlichte Erlebnisberichte» in Tagebuchform, die von vornhenin nicht versuchen, die Greuel des Krieges in allen ihren Ausmassen zu schildern. Wichtig ist jedoch hei einer solchen Darstellung, dass hin- ter dem Beschriebenen ein Ethos steht, eine menschliche Haltung; auch wenn sie sich nicht unmittelbar aussert. Hass gegen die Unmenschlichkeit und Sinnlosigkeit des Ge- échehens und billiger Pazifismus genugen nicht. Auch die nuchterne Darstellung des Kriegsgeschehens, einer Kessel- schlacht, Flucht oder eines Luftkampfes soll ewig gultig sein; denn wahre Dichtung ist uberzeitlich. B. DIE UNBEWALTIGTE VERGAN ENHEIT IN GERD GAISERS WEEK Wie viele Werke der modernen Literatur hat Gerd Gaisers Dichtung die Geschehnisse der Jahre 1939 his 1945, die Nachkriegszeit und ihre Auswirkungen auf unsere Gegen- wart zum Thema. Gaisers Romane und Erzahlungen sind je- doch nicht nur Erlebnisberichte, sondern Versuche, das Selbsterlebte kflnstlerisch zu gestalten und gleichzeitig zu uberwinden. In einer persdnlichen Unterhaltung mit dem Dichter in Reutlingen am.25. Juli 1961 hatte ich Gelegenheit, mit ihm fiber sein Werk zu sprechen und auch das Thema der vorliegenden Arbeit und ihren Aufbau zu diskutieren. Obwohl der Dichter den vielbemflhten Aus— druck von der "unbewaltigten Vergangenheit" nicht ohne Einschrdnkung fiber sein gesamtes Werk gesetzt sehen will, erkannte er doch dieses Problem als eines seiner wichtig- sten an. Gaiser selbst gehdrt namlich zu der Generation, deren Leben am nachhaltigsten durch die Kriegserlebnisse beeinflusst worden ist. Am 15. September 1908 wurde Gerd Gaiser als Sohn des pro- testantischen Pfarrers in Oberriexingen (Wfirttemberg) ge- boren. Er besuchte die theologischen Seminars in Urach 6 und Schdntal und wechselte spater als Malschuler an die Kunstakademien in Stuttgart und Kbnigsberg‘uber. In seinen Studienjahren und nach seiner Promotion in Kunst- geschichte bereiste Gaiser Frankreich, Italien, Spanien,- Holland, Ostpreussen, die Donaulanden und das Baltikum. Den Krieg erlebte er als Offizier der Jagdfliegertrunpe auf verschiedenen Schauplatzen des Nordens, des Sfldostens und des Sfidens und als britischer Kriegsgefangener in Italien. Nach dem Zusammenbruch lebte er als freier Maler, seit 1949 als Studienrat fur Kunsterziehung am Friedrich—List-Gymnasium und seit 1962 als Dozent an der Padagogischen Hochschule in Reutlingen. Far seinen ersten grossen Roman £232 Stimme hgbt an (1950) erhielt Gaiser 1951 den Fontane—Preis der Stadt Berlin; 1955 bekam er den Literaturpreis der Bayrischen Akademie der Schonen Kunste. 1956 wurde er in die West— berliner Akademie der Kunste gewahlt, 1959 erhielt er den Immermann-Preis der Stadt Dusseldorf. 1953 erschien der Roman Die sterbende Jagd, von Holt- husen als das beste deutsche Kriegsbuch in Romanform bezeichnet; 1955 erschien Das Schiff $2 Berg, die Ge- schichte der Schwabischen Alp von der Nacheiszeit bis zur Gegenwart, und 1958 sein grdsster Publikumserfolg, Schlus: ZWischi sannel veller inhei Giann: seln : und :1 Skizz "A l. 7 Schlussball.l Gaisers Erzahlungen sind in den Banden Zwischenland (1949), Einmal und 0ft (1956), Gib acht in Domokosch (1959) und Am Pass Nascondo (1960) ge- sammelt. "Pragnante Anekdoten (z.B. Revanche) und No— vellen im strengen Sinne, also mit Ereignis, Handlungs- einheit, Peripetie und klarem.Absch1uss (z.B. Halimede, Gianna aus dem Schatten, Die schlesische Grafin) weché seln mit weicheren oder offenen Formen der Kurzerzahlung und mit mancherlei handlungsarmen oder handlungslosen Skizzen, EXperimenten, Kompositionen. Realistische Geschichten finden sich neben phantastischen; objektive Erzahlungen neben Erinnerungen, Reflexionen, Visionen. Heiteres, auch Satirisches findet sich neben Stdcken des vollen und letzten Ernstes."1 Auf Vorschlag des Dichters sind in der vorliegenden Ar— beit zum Thema der unbewaltigten Vergangenheit in chro- nologischer Reihenfolge die Romane EEES Stimme hgbt 32, Das Schiff lg Berg, Schlussball, die Novelle Gianna aus dem Schatten und die Erzahlungen Aniela, Das Rad von Sghemboli und Von den Farben der vergangenen Tagg be- handelt worden, Der Roman Die sterbende Jagd, der den iElfriede Stutz, "Der Erzahler Gerd Gaiser" in Estratto dagli Annali dell' Istituto Universitario Orientale Sezione Germanica, No poli51960, 3.218 Todeska: berficksi Einheit zun Them nischen ters, in herrlich AuS den j gewflhlt ’ heit ist stehen. ten~-ur1c1 gané'enen 'flerken e] bend nici Bin Erzei m9 (191' den Sie \2 habEn, I Krieg, a: HQim “at, W h I: 1y- Quanntet 8 Todeskampf einer Jagdfliegertruppe darstellt, ist nicht berueksichtigt, da er mit der totalen Vernichtung der Einheit endet und somit keine unmittelbare Beziehung zum Thema hat. Nicht behandelt werden auch die Sizilia- nischen Notizen (1959), Reisebeschreibungen eines Dich- ters, in denen er das "Wilde, zarte und rosenfarbene, herrliche und schreckliche Land Sizilien" darstellt. Aus den Erzahlungen wurden fur diese Arbeit einige aus- gewahlt, deren Kernproblem die unbewaltigte Vergangen— heit ist und die daher in engster Beziehung zum Thema stehen. Am.Beispiel der genannten Romans und verschie- denen Erzahlungen wird dargestellt, wie Gaisers Gestal- ten~sund mit ihnen der Dichter--sich bemflhen, vom Ver- gangenen loszukommen und neue Werte zu finden. In allen Werken erscheint Gerd Gaiser als Baler, der auch schrei- bend nichts anderes als in Bildern zu begreifen sucht, was uns gestaltlos und unbewaltigt umgibt. Ein Erzahlungsband Gaisers tragt den Titel Einmal End git, der andeutet, dass seine Geschichten, so verschie- den sie auch sein mbgen, ein gemeinsames Kennzeichen haben, Immer handelt es sich um Erinnerungen an den Krieg, an die Vergangenheit, um eine Ruckkehr in die Heimat, Wiederbegegnung mit einer Landschaft oder alten Bekannten oder um eine stille Stunde der Selbstbesinnung. 9 Viele seiner Erzahlungen beginnen mit dem Ende, und die "Handlung" wird erst aus der Erinnerung hervorgerufen. Aus der Distanz wirkt das Erzahlte gleichnishaft, allge- mein. Was berichtet wird, hat sich in der Vergangenheit zugetragen und wird berichtet, weil es Symbol list und sich heute und oft zutragen kdnnte. Gaisers Dichtung ist somit von ewiger Gultigkeit. Das Vergangene, das in allen Werken vergegenwartigt wird, ist der Krieg, der fur alle Menschen, die jetzt in der Mitte ihres Lebens stehen, der entscheidende Schauplatz fuer innere und aussere Abenteuer bleibt. Mit der Er- innerung an die Schrecken des Krieges wird das alte Schuldgefflhl wach. Doch tritt Gaiser nicht als Richter auf, "die MOral ist nicht wichtig"2, sondern er stellt die Frags: Was war eigentlich? Er gibt keine Formel oder These, sondern das Bild. Gaiser beruft sich auf Camus' flzthos von Sisyphos: Die grossen Romanciers sind phiIOSOphische Romanciers, das heisst: das Gegenteil von Thesen-Schriftstellern... Aber gerade diese Dntscheidung, mehr in Bildern als in Uberlegungen zu schreiben, enthflllt ein gewisses Denken, das ihnen gemeinsam ist und das von der Nutzlosigkeit des ganzen Auslegungsprinzips und von der erzieherischen Sendgng der anschaulich gegebenen Erscheinungen fiberzeugt ist. QDersbnliche Unterhaltung mit Gerd Gaiser in Reutlingen am 25. Juli 1961 3Albert Camus, Der mythos von Siszghos, Reinbek bei Hamburg 10 Gaiser verwirft Thesenschriftstellerei; denn er masst es sich nicht an zu entscheiden, was gut and was hose ist. "Gut und Bbse sind heute relativ, man will Gutes und tut Bases, es kommt nur darauf an, wie man in der Welt besteht."4 Diese Worte des-Dichters beantworten die Frage, ob und wie er in seinen Werken die Vergangenheit bewaltigt. Durch Taten der Wiedergutmachung ist sie nicht zu bewaltigen. Schon die Tatsache, dass Gaiser den Krieg, das Vergangene, die Schuldfrage, als Thema bevorzugt, zeigt, dass die Ver- gangenheit nicht einfach abgetan werden kann. Sie ist in allen seinen Werken lebendig, spielt immer wieder in die Gegenwart hinein und zwingt den menschen zur Stellung- nahme. Gaisers Gestalten finden in solchen Grenzsituati- onen verschiedene Auswege. Einige suchen sogar den Tod, wenn sie ihre Erlebnisse nicht fiberwinden kdnnen, oder verfallen dem Nihilismus. Andere glauben in materiellem Besita neue Sicherheiten zu finden oder sich zerstreuen zu kbnnen. Sie alle fliehen vor der Wirklichkeit. Der Dichter ist jedoch auf der Seite derer, die--in der Liebe oder im Glauben—-die Kraft finden, im.Angesicht der Vere~ gangenheit weiterzuleben. Das Durchsteheh allein zahlt, die Haltung. 4Persbnliche Unterhaltung mit Gerd Gaiser in Reutlingen am 25. Juli 1961 11 In der Erzahlung Das Rad von Sghemboli zeigt Gaiser, wie relativ Gut und Bose sind, wie gute Absichten in ihr Ge- genteil umschlagen kdnnen. "Jeder bekommt doch, was zu ihm gehdrt, und jeder sein Gegenteil, damit er ganz wird."5 Um in der Welt zu bestehen, um."ganz zu werden", muss der Mensch sein Schicksal bejahen, auch wenn es ungerecht und sinnlos erscheint. Das armselige Dorf Sghemboli auf der Grenze zwischen Kon- fdderation und Konigreich war nur durch einen steinigen, ausgetretenen Pfad mit der Welt unten und dem.Bergesgipfel oben verbunden. Ausser den Frauen bewegte sich niemand dort herunter oder hinauf. Die Frauen horten ihr Herz pochen, ihr geduldiges und vernutztes Herz laut pochen in seiner Hahle, und sie blickten aus dem gewaltigen Raum fhrer Berge hinab in ihr winziges und muhseliges Dorf; sie krochen wieder unter die Last und strammten ihre zerbogenen Schultern unter den Gurten, sie streckten sich aus dem.Kreuz und schickten sich in den Abstieg mit einem wortlosen und vernunftlosen, ergebenen Seufzen. (8.315) Willig tragen sie ihre Sisyphoslast, bis eines Tages eine Strasse gebaut und eine Postlinie eingerichtet wird. "So kam das Rad nach Sghemboli und vollbrachte, was es zu tun hatte." (8.326) Die Dorfbewohner finden lohnendere Ar- beit unten im Tal, Abwanderung setzt ein, und in wenigen SGib acht in Domokosch, Mflnchen 1959, 3.338 KTIe nachfdlgenden Seitenzitate sind diesem Erzahlungs— band entnommen. filllt der 2: 12 Jahren ist Sghemboli verlassen und leer. Ein Bergsturz verschuttet die unheilvolle Strasse, und Sghemboli ist nur noch fur den letzten militarischen Zweck branchbar: Schiessflbungen, Sprengwirkungen, Zerstorung. Somit er- fflllt sich das Schicksal des Dorfes, wie es zu Beginn der Erzahlung prOphezeit wird: Vorgange in dem Dorf Sghemboli und sein Ende erweisen jene Verkehrungen, in die unser Handeln gewdhnlich mflnden muss. Keine Ausflucht trugt Erfahrungen dieser Art hinweg, keine Hoffnung kann es gegen sie aufnehmen. Je deutlicher sich indessen ein solcher Gang als unab- anderlich abzeichnet, desto sicherer kOnnen wir offen- bar damit rechnen, dass fur unser Handeln Nasse seiner Art gelten werden, nicht aber Erfolg uns rechtfertigen oder richten wird. (S. 313) Die in guter Absicht erbaute Strasse hatte zum.Untergang des Dorfes gefuhrt. Doch dieses enttauschende Ergebnis ist weniger entscheidend fur den Ausgang der Erzahlung als der scheinbar zufallige Tod des letzten Bewohners von sghemboli. Mit dem Dorf wird namlich ein alter Nann ver- nichtet, der an den Ort seiner Jugend zurflokgekehrt ist in dem Glauben "alles warte noch auf ihn und halte sei- nen Platz frei." Niemand erwartet ihn, seine Geliebte aus der Jugend ist verschwunden, und er muss die eigene Tar eintreten, um.in seinem Zimmer zu fibernachten. Der Lurm.der einschlagenden Geschosse erfullt ihn anfangs mit tierischer Angst, doch plotzlich erkennt er, dass sich das Ducken nicht mehr lohnt: "Nichttun ist besser l3 als tun." (8.337) Jeder bekommt doch, was fur ihn be- stimmt iat. Der alte Strbssner ist nach Sghemboli her- aufgekommen, um dort der_letzte zu sein. Indem er sich seinem ihm sinnlosen Tod ergibt, bejaht er sein Schick- sal und beweist menschliche Grdsse. Gaisers Werke behandeln alle in irgendeiner Form eine Heimkehr an einen wohlbekannten Ort, Rfickblicke in die Vergangenheit, Erinnerungen. Sie sprechen von dem uner- fullbaren und doch unausrottbaren Verlangen des menschen, sflil entschwundene Zeiten zu vergegenwartigen, vergange— nes Erlebnis zu wiederholen. Alle Versuche, das Noch— einmal herbeizufflhren, scheitern jedoch zuletzt, und der Mensch sieht ein, dass er seine Vergangenheit--ob beglfickend oder bedrfickend-auberwinden muss, um in der Gegenwart zu bestehen. I. Bing Stimme h_e_b_t_ an "In die namlichen Flflsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind es und sind es nicht," Dieser Ausspruch Heraklits leitet Gaisers Roman Bing Stimme hebt an ein und umreisst sein sittliches Problem: Wie kann ein in allen seinen Hoff- nungen und Erwartungen enttauschter Mensch wieder Glauben und Zuversicht gewinnen? Wie kann ein Heimkehrer seine Vergangenheit bewaltigen und einen neuen Anfang finden? Wie kann er es vermeiden, nach einem solchen Sturz in den Sog des Nichts zu geraten? Gaiser findet eine uberzeugen- de AntwOrt auf diese Fragen. Sein Held Oberstelehn uber- windet die Erlebnisse seiner Vergangenheit, indem er zu seiner ihm untreu gewordenen Frau zurfickkehrt und mit ihr ein neues Leben aanngt. Oberstelehn ist ein Heimkehrer, nichts Besonderes, ein Mensch wie viele. Der mann hiess Oberstelehn und hielt von sich nicht mehr viel; er konnte mit seinem.Mamen nicht Staat ma— chen, der die Amtsstuben verdross. Leute hatten offen— bar einst auf der obersten Lehne gewirtschaftet oder auf dem obersten Lehen; das mochte steinig und ohne Verfflhrung zur Hoffahrt gewesen sein. Er hatte die- sen Vorfahren nicht nachgeforscht, ihrer Heimat auch nicht; er selbst besass keine Heimat mehr. (5.7)l lEine Stimme hebt an, Mflnchen 1960. Alle nachfolgenden Seitenzitate sind diesem Roman entnommen. l5 Er ist der Hann von 1945, der Mann, der zuruckkehrt, hei- matlos, "ein Herr Jedermann als Opfer der politischen Un- geheuer des XX. Jahrhunderts."2 Er ist skeptisch, ver- zweifelt, mflde und abgerissen. Seine Frau hat ihn ver- lassen, sein Kind ist tot, seine Wohnung ausgebombt.‘ Gerade hat man ihm noch das geliehene Fahrrad gestohlen. Er hat kein Bedurfnis, an seinen Ausgangspunkt zurflckzukehren, sondern kommt in das Stadtchen Irrnwies, wo er frdher die Schule besucht hat. In dem Nachbardorf Nonn findet er Unterkunft und lebt dort ein Jahr bis ihm der Zuzug ent- zogen wird. Irrnwies ist ihm aus der Vergangenheit in lieber Erinnerung, in Nonn ist er ahnlich fremd wie Kafkas Held K. im.Schloss. Oberstelehn ist ebenfalls ein nega- tiver Held, ein sympathischer Mensch, der Einzelne, der in einer abstossenden Welt verloren ist. Er hat aller- dings einige wenige Bekannte von fruher, deren Schicksal er kennt und die sich seiner erinnern. Die meisten sei- ner Schulkameraden sind jedoch gefallen, in vielen Fa- milien ist der Vater, Sohn oder Bruder nicht zurfickge- kommen. Auch erkennen ihn die Bekannten nicht gleich; denn er hat sich verandert. Er ist es und ist es nicht. 2Curt Hohoff, Geist und Ursprung, Munchen, 3.191 16 Aber auch er verstand erst, als er so durch die Strassen hintrieb, wie die Menschen ihn sehen muss- ten. Von sich selbst glaubt jeder, er ware es noch. Aber da findet Gespenst zu Gespenst. Unsere Nachbarn sagen: E2 revenant. Das Wort trifft. Hatte jemand ihn anreden sollen? Fur ihn brauchte es nicht einmal einen Namen. Er war nicht einmal Oberstelehn. (3.42-43) Fur die Amter ist er nur eine Ziffer, wie viele Heimkehrer neben ihm, denen wieder ein Platz in der Gemeinschaft an— gewiesen werden muss. Sie tragen abgeschabte, schwarzge- farbte Wehrmachtsuniformen ohne Achselstucke und blanke ‘Kndpfe. Ihre Gesichter, von Entbehrungen gezeichnet, Spiegeln Hoffnungslosigkeit und gleichzeitig Verachtung. Sie standen vor den verfluchten Pulten und Schaltern in einer bissigen gemachten Damlichkeit und liessen sich stempeln, wenn aufgerufen wurde, oder holten sich ihre Scheine als Schwerarbeiter. Vielleicht, dass ein paar sich verbargen; die meisten verbargen weder sich selber noch sonst etwas. Sie hatten nichts zu verber- gen, sie hatten gar nichts, vielleicht nicht einmal etwas, um darum zu trauern. (8.43-44) Sie sind erbarmlich arm und am Rand der VerzWeiflung, doch haben sie ihr Leben retten kdnnen und mussen nun sehen, wie sie fiber die Zeit kommen. Was 8011 werden? Oberste- lehn lasst sich treiben. "Wohin, das wusste er nicht, kaum, dass er getrieben war.".(S.44) Er hat kein Ziel, und er halt vom Guten nicht viel. Doch da er den Krieg uberlebt hat und zu denen gehdrt, die leben sollen, muss er einen Anfang finden. Im Krieg hatte er nicht sehr an seinem Leben gehangen, und die Vorstellung des Todes hatte 17 ihn gleichgultig gelassen, doch "nun war er zu leben beschieden, befohlen, gesegnet, verflucht;..." (3.45) Nicht nur die Kriegsheimkehrer fuhlen sich verlassen und verloren in ihrer erschutterten Welt,_Frauen, Kinder, alt- gewordene Madchen, Ubriggebliebene, sind genau so hart ge— troffen und mflssen trotzdem weiterleben. Oberstelehns a1- ter Schulkamerad, der einaugige Apotheker Michael Amhag, dem seine Tolpatschigkeit als Kind den verdrehten Namen Leachim eingetragen hatte, ist nicht Soldat gewesen und' hat, da er alleinsteht, keinen nahen Verwandten verloren. Er tragt an der Vergangenheit, weil er nicht kampfen und das Gefuhl der Nutzlosigkeit nicht loswerden konnte, "er norgelte gegen den Tod, weil ihn der nicht beachtete." ($.22) Er sah sich von ganz weit: da stand er mit seiner Ver- gangenheit und stand da mit seiner Zukunft... Wen der Krieg behalten hatte, der war fertig mit Vergangenheit und fertig mit Zukunft. Er aber schleppte am Vergange- nen, und seine Zukunft lag fade und verlasslich vor ihm wie altbacken Brot. (8.22) Auch er hat kein Ziel, nur die Gewissheit eines geregelten, eintdnigen Lebens, das ihn verdriesst. Hit seinen Freunden, dem Doktor, dem alten Apotheker und Ness Kammerer-—g1eich— falls Alleinstehende und Ubriggebliebeneé-snielt er Doppel- kOpf. Trotzdem ist er einsam und hat "ein Gesicht voller Verlassenheiten." Gaiser erzahlt oft von Henschen, die 18 schwer beladen sind mit Mflhsal und Gebrechen und gerade deshalb besondere Einsichten und Erkenntnisse haben. So ist der einaugige Apotheker neben dem alten Forstmeister Speeth einer der letzten menschen. Obgleich er sich immer den Anstrich der Unanstandigkeit giht und glaubt, nutzlos zu sein, stirbt er fur seine Mitmenschen. Sein Opfertod widerlegt die pessimistische Weltanschauung, die er Oberstelehn erklart. Viele Zeitalter haben Erschfltterungen gekannt, immer hat eine Welt, eine Schicht, eine Geburtenreihe sich im Sterben gesehen... Nun aber ist das ganz anders, denn jetzt hat die Aufldsung eingesetzt, das Gehirn- tier seine letzte Stufe erklommen... Der Hensch ist das Mass aller Dinge nicht mehr, die Maszstaebe uber- haupt sind in Unordnung. (8.124) ...ich sehe mir die Historie an und habe nur Miss- achtung fur 816. (8.126) Der Mensch ist nicht mehr, was er fruher war. Er hat seine Wflrde verloren, nun kann man ihn "abriChten, ein- setzen, seine Meinung bilden, ihn verwerten, verheizen, werbrauchen, fortwerfen." (8.333) Es gibt keine Ehr- furcht vor dem Leben mehr. "Unter uns befindet sich kei— ner mehr, der kein Tater ware, zumindest, er besitztkei- nen Gegengrund, es zu werden." (8.334) Nur der Mensch iselbst kann sich in dieser chaotischen Welt helfen. Eine neue Ordnung wfirde ihn nicht andern; denn "So viele Gesetze, als Mdrder herumlaufen, kann gar keiner ausden- l9 ken." (8.335-6) Amhag glaubt an den bevorstehenden Welt— untergang, nachdem alle sittlichen Werte verloren sind. Er selbst hat sich jedoch die Ehrfurcht vor dem Menschen bewahrt, obwohl er es nicht wahrhaben will. Br, der sich uberflussig fflhlte, zdgert nicht, sich fur sein Dorf zu 0pfern. Durch seinen Tod uberwindet er seine Vergangen- heit, nicht, weil er ihr entgangen ist, sondern weil er sein Leben gegeben hat in dem Glauben, die Dorfbewohner vor einer verheerenden Krankheit bewahrt zu haben. Oberstelehn hat sich kein GedankengebAude errichtet, fiber- haupt denkt er nicht viel. Er geht unter die einfachsten Henschen, die Holzfaller, die schwer arbeiten und wenig reden. Dort treffen sich mit den alten Waldlaufern die Erwerbslosen, Fluchtlinge, Heimkehrer und Burger, die mit- helfen massen, Holz fur einen kohlenlosen Winter einzubrin— gen. "Es war ein freies Treiben, ein jagermassiger borsti- ger Ton, Harte, Lust, Gleichheit." (8.97) Oberstelehn kennt und liebt den Wald aus seiner Jugend, jetzt tragt er notgedrungen zu seiner Vernichtung bei. Er findet so- gar einen Platz, der ihm fruher heilig war, abgeholzt und aufgewuhlt. Diese Landschaft, von Gewalt und Zerstdrung gezeichnet, trostlos, nackt und hasslich, ist Symbol fur die seelische Verfassung des Heimkehrers und aller vom Schicksal geschlagenen Menschen. 20 Das Land hatte seinen Engel verloren. Der Engel hatte gehorcht, als sein Befehl ihn abrief vom geschandeten Boden, er folgte, schwermfitig weichend. Aber die Engel, selber von Ewigkeit, lechzend im grossen thnzen, vom Ewigen ungeletzt, zieht eine Sehnsucht zuruck nach den Rauchmalen des Leids, nach dem Geruch der Geburt, nach der Bestaubung des Tods. Jetzt hob-er sich manchmal 1m Westen, wenn die Luft stille war, stand auf dem gras- losen Lande, das Angesicht hergeneigt, senkte langsam den Blick, fragte den Abendrauch. (8.104) Diese geschandete, vom Engel verlassene Landschaft ist eine mythische Landschaft; "es ist Hdlderlins Landschaft, die an die Wiederkehr der Gdtter glaubt. Hier sind es Engel, Mitt- lerwesen zwischen Gottglanz und lifenschenleid."3 Auch die- ser Engel kehrt zuruck, er gibt die verlassene Welt nicht auf, sondern rettet sie. Neue Zuversicht und neuer Glau- be erffillen den Menschen. Es gibt wieder ein Heil in der5 Welt. Oberstelehn fasst den Entschluss, zu seiner Frau zu gehen und ihre Ehe zu erneuern. Unter den Holzfallern trifft der Heimkehrer den ehemaligen Pfarrer von Pulverdingen, der sich, ahnlich wie Soldner 1m Schlussball sein Amt angemasst hatte und nunzach seiner Entlassung im Wald arbeitet. Als Fluchtling war er in das Dorf gekommen, wo die Pfarrstelle frei stand. Es war bekannt unter seinen Leidensgefahrten, dass er das Geheim— nis einer trdstenden Hand besass. Die Dorfbewohner trugen 3Hermann Pongs, ImiUmbruch der Zeit, thtingen 1958, 8.228 21 ihm somit das Amt an, obgleich er seine geistlichen Eigen- schaften nie erwahnt hatte. Er erffillte das Verlangen sei— ner bauerlichen Gemeinde nach Trost und Betreuung, doch musste er entfernt werden. Br tragt_es mit Ergebenheit; "es ist doch Alles von Gott." (8.174) Der abgesetzte Pfarrer gewinnt die Kraft, in einer ordnungslosen Welt zu bestehen, aus seinem Glauben. Hit diesem Glauben erhebt er nicht Anspruch auf ein besseres Schicksal und Entscha- digung fur die Zeit im.Konzentrationslager und sein gegen- wartiges Dasein als Fluchtling, sein Glaube hilft ihm le— diglich, das Schicksal mit Gelassenheit zu tragen. Der Pfarrer verlangt keine Rechenschaft, "Soll ich der Tor sein, der meint, dass man in Gottes Namen gewinnen kdnn- te?" (8.418) Er erkennt Gott fiberall in der zerstdrten Landschaft. Im snaten Herbst bluht an einsamer Stelle ein Apfelbaumchen. Far die alte Bauersfrau ist "alles aus dem Gang geraten, Sommer und Winter, der Blust und die Frucht." (8.199) Der Pfarrer sieht in der Bluten- pracht das Walten Gottes, einen "unaufhbrlichen Anfang." Er mdchte den Menschen von dem Erlebten berichten, aber das ware wider die Obrigkeit. Doch kann er zu ihnen sprechen, indem er ein Krippenspiel fur die Dorfjugend schreibt. Oberstelehn ubt das einfache, ergreifende Spiel mit den Kindern ein, kurz vor Weihnachten wird 22 es aufgefflhrt. Er lasst die Kinder selbst ihre Lieder singen, er flbt keine Rollen ein. Sie spielen "wie aus einem Perik0penbuch des elften Jahrhundert, und es sind die Gebarden von Christen aus Byzanz.” (8.253) Das Spiel endet mit dem Auftritt eines Engels, der die Gottesbot— schaft bringt. Oberstelehn aber hbrt die Botschaft nicht. Er hat in diesen Tagen den Tiefpunkt der Hoffnungslosig- keit erreicht. Das Bild des Engels, der an solchen Tagen zurdckkehrt zu dem Boden, von dem.er unwillig gewichen ist, symbolisiert diese Verzweiflung: der Engel weint, "gelehnt an die Lende des Berges." (8.274) Am Weihnachtsabend fahrt Oberstelehn mit dem Zug in eine grosse Stadt, wo ihn niemand kennt. Ziellos wandert er durch die Schutthalden und kehrt endlich zum.Bahnhof zu- ruck, "dem einzigen Ort, wo ein Rest Leben hinkrankelte..." (8.256) In der halbzerstdrten, regenfeuchten Wartehalle dberkommen in Erinnerungen an die letzten verzweifelten Zeiten des verlorenen Krieges, doch gleichzeitig hat er das beruhigende Gefflhl zu Hause zu sein, da, wohin er gehbrt. Er liess sich neben der Tar nieder und stdtzte die Ellbogen auf seine Knie. In diesem Augenblick schien ihm sein gegenwartiges Dasein zu zerflattern, und wirklich schien nur dies, dass er hier sitze und warte, warte auf etwas, vielleicht nur auf einen Zug. (8.258) Ein Haler, der die linke Hand verloren hat und erst 23 kurzlich aus der Gefangenschaft entlassen worden ist, Spricht ihn an. Der Maler wartet auf mehr als auf einen Zug, er hat ein Ziel. Frflher war es selbstverstandlich, ein Ziel zu haben und sich auf dem Wege dahin zu schinden, heute aber besteht die Schinderei darin, ein Ziel zu ent- decken; "...sieht man es erst, so heisst das, man hat das meiste geschafft." (8.268) Auch ein Maler sieht sich von einer Landschaft uberwaltigt, ehe er sis in sich aufnehmen, verarbeiten und auf die Leinwand fibertragen kann. Es wird dann eine andere Landschaft und bleibt doch dieselbe. Weil er ein Stack bewaltigt hat, so baut er Hoffnung darauf und eine Gewahr, er mochte das Ganze bestehen. Das heisst, er ist auf dem Weg... (8.269) Der maler hat, nachdem die Welt um.ihn zerstdrt ist, noch einen Halt an der Kunst, jedoch nur, weil er den Willen zum Schaffen bewahrt hat. Er hat Lebensmut und glaubt daran, dass es wieder aufwarts geht, da mit der Niederla— ge der Tiefstand erreicht ist. Der Kampf ist ausgetragen, der Drache auf die Erde gestflrzt; er bedeckt sie zwar noch, aber es herrscht Stille, "die Starre des Scheintods, die Stille, ehe der Wind umspringt von einem Himmelsende zum andern." (8.271) Die Begegnung mit dem maler, die zweite Botschaft in der Christnacht, lasst Oberstelehn seine Ein- samkeit noch starker fuhlen. Die Worte des Halers helfen ihm nicht; denn ohne Glauben kann er kein Ziel finden. 24 Er geht in der Irre, aber dass er sich bewegt, ist ein er- ster Schritt zurflck zum.Leben, ein Anfang. "Was sich voll- enden soll, muss die Verzweiflung durchwachsen..." (8.273) An Amhags Gleichnis von den Armee—Ameisen wird Oberstelehn sein eigener leerer Kreislauf offenbar. Wenn die Fuhrung' verloren ist, kreisen die Ameisen bis zum Verhungern wir- belnd um eine leere Mitte. Das Gegenbild sieht Oberstelehn erst am Ende seines Weges, kurz vor dem Ziel: das Bienen- gesicht: Dort in der tdnenden Ode schwoll der Schwarm selbstge- nugsam, niemand zum.Raube, von innen zitternd, in einer Wolke von Pollengeruch, einer Glocke von jachtrunkenen, schrillen und dunklen, klagenden, zornigen, inbrunstigen, triumphierenden, hingerissenen Stimmen. Es schien ihm ein Zeichen, er nahm es an, es verkundete Ffllle und Gldck...o Atem, o Lebensfest. (8.436-7) Es ist ein bekanntes und lange vergessenes Bild, das ihn an seinen Hochzeitstag erinnert. Die Gaste hielten es damals fur ein gluckverheissendes Zeichen, als sich ein Emsenschwarm auf dem Schleier der jungen Braut nieder- liess. Doch das Glflck liess auf sich warten. "0 Wahn, o betrogenes Leben. Zeichen undeutbar, von Menschen ge- deutet: lflgende Zeichen." (8.437) Das Bienengesicht, so wie er es an diesem Frflhlingstag wiedersieht, ist jedodh kein vergebliches Zeichen: es weist Oberstelehn auf sein Ziel hin, die Wiedervereinigung mit seiner Frau. Auch Ness Kammerer ist sich in der Weihnachtsnacht ihrer 25 Einsamkeit besonders bewusst. Sie hat keine Familie, ihr Verlobter ist gefallen, sie selbst ist nicht mehr jung'und hat wenig Aussicht zu heiraten. Doch lasst sie sich nicht ziellos und glaubenlos treiben, obwohl auch sie Stunden tiefster Hoffnungslosigkeit kennt. In der Christnacht spen- det sie Blut fur eine sterbende Frau. Es ist umsonst. Tiefe mutlose Trauer, Enttauschung hielten sie nieder. Es kam ihr vor, als ob sie nur da ware, um.zu verlieren, alles das Ihre und zuletzt sich selbst, und sich zu er- schdpfen, vergeblich und ungesegnet, und dass dies alles sinnlos und nutzlos bleibe, taube Blute und nimmer Frucht. (8.265) Diese verawdfelten Worte sind jedoch nicht kennzeichnend fur Ness Kammerers Einstellung zum Leben. Obwohl sie alles verloren hat, verliert sie sich selbst nicht. Wie Amhag schont sie sich nicht, wenn sie anderen helfen kann. Sie ist zwar ein wenig "vor den Schlitten", aber nicht unter den Schlitten geraten. Obgleich er ihr wehtut, billigt sie Oberstelehns Bntschluss zur Ruckkehr. Sie war seine Jugendliebe, doch der Krieg hat das "schdne, unbandige Hexengeschdpf”, das aus Ubermut heller als die Pulverdin- ger Hahne krahen konnte, zu einem ernsten, einsamen Mad- chen gemacht. Oberstelehn besucht sie nach seiner An- kunft in Nonn in der Bibliothek des alten Kammerer, der schdne Bucher sammelte. Das Gartenhauschen ist vom Krieg unversehrt geblieben, in den alten Buchern scheint 26 ein Stuck Vergangenheit bewahrt, bis auch sie in Flammen aufgehen. Da sahen sie dort, wo das KAmmererhauschen stand, eine Flamme; keine Lichterpunkte elysisch in den Halden hin- getupft, sonder dort die einzige siCh zusammenziehende und wieder auseinanderwallende Flamme; sie brannte bdse, rotgelb und zornig. Es war kein spielerisches Brandchen, sondern es brannte alles grundlich und ganz und gar; das Dach, alle Ecken standen in Flammen, nichts mehr zu ret- ten, es brannte wie ein gelegter Brand brennt...0berste- lehn kam es vor, er sehe den alten Wieland schwarz auf seinem Sockel heraufgehoben, ehe er stflrzte. thter, Helden und Wieland, sagte er, da gehen sie hin. (8.62) Die unlbschbare Flamme vernichtet das Letzte, was Ness Kam- merer aus einer besseren Welt hindbergerettet hatte und das sie an die Vergangenheit band. Ihr Lebensmut wird jedoch nicht zerstdrt. Ness Kammerer ist eine der Gaiserschen -Frauengestalten, die sich Innerlichkeit und Zuversicht be— wahrt haben, selbst wenn Manner versagen. Sie musste ohne Hilfe bestehen, als Oberstelehn sie nach dem vernichtenden Brand verliess, in einer Zeit, da sie ihn am meisten brauch- te. Oberstelehn wusste jedoch, dass sie ihn nicht notig hatte, obwohl auch sie nicht ungefahrdet ist. Ich...glaube, dass zwar der Anstand es nirgends ganzlich gewinnt, aber das Niedertrachtige auch nicht, und dass die Bestatigung aus Werken kein Zustand ist, sondern eine Aktion. Sie ist ein Drittes, das sich zwischen zwei Fel- dern entladt, und ohne das Bdse kann Gut nicht gut sein. (5.448) Hit diesen Worten sagt Oberstelehn dem.Madchen in ihrem letzten Gesprach, dass er von ihr gelernt hat. Er bejaht 27 das Leben, so wie es ist, mit seinen Schattenseiten und seinen glucklichen Stunden. Er glaubt wieder an die mensch- liche Bindung, das Sakrament. "Wir haben so viele Ordnungen vergessen oder zuschanden gemacht, dass wir uns jetzt an das wenige halten mussen, was es noch gibt." (8.437) Oberste— lehn hat nut zu einem.neuen Anfang und entscheidet sich zu dem Nachsten, was fur ihn das Schwerste ist: seine Ehe zu retten. Ness Kammerer fragt ihn beim Abschied, ob er seine Frau noch liebt. Nein, aber es ist ein sonderbarer Bestand in der Ehe, man kann sie biegen, aber sie bricht davon nicht... Weisst du, das mit der Liebe, die sich nicht befehlen lasst, das ist vielleicht auch bloss Gerede. Die ist vfldleicht nur ein Ausschnitt, eine entbehrliche Spiel— art, das Stuck ist umfangreicher. An einem Bild, sagen die Maler, sind das Schwerste sie leeren Stellen. Aber man kann nicht auSweichen, wenn es fertig werden soll. (3.449) Oberstelehn nimmt auch Abschied von Ersabet Waaga, der Frau, die ihn in Nonn hielt und doch durch ihr Vorbild zur Heim- kshr bewegte. Ihr Mann ist 1m Osten vermisst, sie hat keine Verwandteh und wenig.Anschluss 1m Dorf. Oberstelehn schutzt ihre kleine Tochter vor den Verfolgnngen der Dorfjugend, holt die Holzration fur die Familie aus dem Wald und besorgt Lebensmittel. Er kummert sich um die vaterlose Familie, als ob es die eigene ware. Dabei hat er selbst eine Frau, die ihn vielleicht braucht. 28 Einen Fernsten lieben, weil der Nachste nicht sehr be- quem ist und klagen kbnnte. Vielleicht war eine andere Frau auch allein, mdglich immer, dass sie nun allein war. Und diese Frau hiess Oberstelehn. (8.82) ' Es fullt ihm leichter, fremd zu sein und einer Fremden zu helfen. Noch fehlt ihm der nut, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen. Oberstelehn verehrt diese Frau, die "wartet und sich wehren muss" und bewundert ihre Sauberkeit und Mutter— liebe, ihren Anstand und die Festigkeit, mit der sie zu ihrem verschollenen Mann halt. Ersabet Waaga schatzt in einer Zeit, in der die Ehrbegriffe unklar geworden sind, die Rit- terlichkeit und Rucksicht ihres Bekannten. Was ist ein Weib. Glauben sie denn, dass es bestehen kann? Sie wird es nicht kdnnen, nicht lange, und nicht fur immer. Sie ist nur sicher, wenn einer ihr Wachter ist, vor ihr selber und vor ihm selber auch...Sie haben bestanden, und ich durch Sie. (8.435) ' Ersabet Waaga verzweifelt nicht in der Ungewissheit, ob ihr Mann lebt, sondern erhalt sich fur ihre drei Kinder. Als ihr Mann nach dem vielleicht letzten Urlaub wieder einge- zogen ist, tanzt sie fur die Kinder, die sie gerade jetzt nicht weinen sehen kann. Ich zerrann vor Angst und habe euch vorgespielt, damit ihr nichts von der Angst merken solltet, wo ich doch selbst nur noch Angst war, nichts als Angst, so voller .Angst, dass da gar keine Wahl blieb, als mutig zu sein. Es soll nicht aufhdren. Ich will weiter lieben. (8.165) Trotz Hunger, Einsamkeit und angstvoller Spannung besteht sie; denn "aus der Liebe leben und aus der Erhdhung durch 29 sie, das ist fiberhaupt das einzige, wofur sich die Schdpfung gelohnt hat." (8.284) Wie Herse Andernoth im Schlussball hadert Ersabet Waaga nicht mit dem Schicksal, sondern trflgt es tapfer, eine von den wenigen, die trotz Hunger und Ent— behrungen Menschen geblieben sind. "Nichts macht so unan- standig wie Hunger, den, der ihn leidet, und den auch, der sich seiner bedient," (8.270) sagt Amhag. Auch Oberstelehn schiebt, doch Frau Waaga erbettelt Gemflse und Milch von den Bauern, die nur mit knapper Not einen Liter abgeben kdnnen. Der Hunger macht sie nicht "unanstandig", obwohl die Sorge 'um.ihre Kinder es hatte rechtfertigen kdnnen. Ersabet Waaga zieht aus der Liebe zu ihren Kindern und ihrem vermissten Mann die Kraft, das Gewesene zu uberwinden und die Notaund Hungerjahre nach dem.Krieg,durchzustehen. Oberstelehn hat keine Liebe, Keinen Glauben, keine Hoffnung. (Er lasst sich treiben wie viele andere, die des Irrtums sind, "sie kdnnten des Gestrigen ledig werden und besdssen das MCrgen, wenn sie dem.Gestern entflohen waren." (8.284) Doch auch er findet endlich sein Ziel, nicht zuletzt durch das Beispiel der be- wunderungswurdigen Frau Waaga. Nur ein Jahr bleibt er in Nonn, doch diese kurze Zeit in der alten Heimat, die lungst :nicht mehr die alte und auch keine Heimat mehr ist, macht einen.neuen Henschen aus ihm. Oberstelehn arbeitet in den verschiedensten Berufen. Es 30 beginnt damit, dass der gerade aus der Gefangenschaft Ent- lassene zwei Kindern beim Bucheckernsammeln hilft und ihrer Mutter den Stall baut, den der Mann nicht mehr fertigstellen konnte. Als Vertreter einer Wohnungskommission misst er Prachtstuben, Hutten, Scheunen, Bodengeschosse, unbenutzte Werkstatten und Fldchtlingsbaracken aus, ob noch weitere Aufteilungen mdglich sind. Er 1ernt die Dorfbewohner und ihre Schicksale kennen. Er ist Waldarbeiter und Laienspie- 1er, "Laie uberhaupt und durchweg unheilig und ohne Weihen, ehefluchtig, Totschlager, Schwarzhandler, fremde Weiber be- gehrend in Taten und Gedanken..." (8.438) Nur ein kurzes Jahr dauert diese Entwicklung, die eigent- lich viele Jahre, vielleicht ein ganzes Menschenleben fullt. Oberstelehn findet zum Schluss zu sich selbst zuruck und erkennt, dass er vor der Wirklichkeit nicht fliehen kann. Er hat sich treiben lassen und ist schuldig geworden. Er erkennt seine eigene Schuld und ist bereit, seiner untreu gewordenen Frau zu vergeben und die Ehe mit ihr zu erneuern. "Es gibt Dinge, die tiefe Bindung und Pflicht bedeuten und einen tragen, wenn man sich daran halt."4 4Persdnliche Unterhaltung_mit Gerd Gaiser in Reutlingen am 25. Juli 1961 II. 2a_s_ Schiff _i_m_ Berg Dieses wenig bekannte, wohl beste Werk Gerd Gaisers ist weder ein Roman noch eine Erzahlung, sondern ein wissen- schaftlicher Bericht in dichterischer Form.und Sprache. Es ist eine Komposition aus Bildern, jedem.Bild geht eine kurze sachliche Notiz voran. Es tragt den bescheidenen Untertitel: Aug 922 Zettelkasten des Pgtg£.Hagmann. Doch diese episodenartigen Kapitel, eingeleitet durch die Tags- buch—Stichworte des Geologen und H6h1enforschers Hagmann, sind mehr als Aufzeichnungen eines Wissenschaftlers: es sind Visionen, welche die 180 Millionen Jahre alte Ge— schichte des Berges und seiner Bewohner umfassen. Sie zeigen die Entstehung der Steine, Pflanzen, Tiere und men— schen und berichten fiber die Gewalt der magischen Elementee des Wassers, der Luft, der Erde und des Feuers. Der Berg ist immer die Hauptperson, und die Menschen, die fiber ihn hinwegziehen, dienen nur dazu, der Hauptperson eine voll- standigere Existenz zu schaffen. ”Nein, ohne die Menschen ginge es doch nicht,"l erkennt Hagmann, der die Historie 1 Das Schiff im'Ber , Mflnchen 1955. Alle nachfolgenden Seitenzitate s1nd diesem Werk entnommen. 32 des Berges ohne die Menschen schreiben wollte; denn der Berg ist Schauplatz der menschlichen Problematik vergan- gener und gegenwartiger Geschlechter. Er ist zugleich herr- lich und mdrderisch, eine Szene, auf der sich die Klaglich- keit und der geheime Glanz des Menschenwesens Offenbart. Die Geschichte reicht von der Entstehung aus dem Urmeer, das man aus Ton, Sandstein, Mergel, Schichten Beta bis Zeta ablesen kann, fiber Urtier und Hdhlenmensch zur fruhesten Siedlung, fiber keltische und germanische Ahnen zu Vblker- wanderung und Mittelmeer, fiber die Zeit der Herzdge zu den beiden Weltkriegen und zur Gegenwart. Es ist ganz allgemein die Geschichte der Erde und ihrer Wesen, die Geschichte vom ewigen Werden und Vergehen alles Lebens. Der Berg gehdrt zu der kleinen Gemeinde Horgenloch, and Peter Hagmann hat den Auftrag, die wissenschaftlichen Funde einer Tropfsteinhdhle zu bergen, bevor die Hdhle fuer den Fremdenverkehr freigegeben wird. Seit jeher Spielt der Berg eine bedeutende Rolls in der Vorstellung der Dorfbe- wohner. Frflher war er Sitz mythischer Gewalten und unfass- licher Elementargeister, geheimnisvoll seine Schatze verber- gend, doch nun hatte der Zufall den Eingang zu einem ver- zweigten Hdhlensystem freigelegt, von dem man sich Reichtum und Ruhm versprach. "Immer war die Gemeinde arm gewesen, und warum sollte nun nicht endlich das Schiff aus dem Berg 33 kommen?" (8.8) Da es weit und breit kein von Schiffen be- fahrenes Wasser gab, hatten die Horgenlocher nie ein Schiff gesehen; ein Schiff im.Berg war fur sie dOppelt geheimnis- voll, gleich den Mfichten der Natur, die niemand je gesehen hat und die doch taglich fuhlbar sind. Das Schiff ist Sym- bol der Fulle; das Schiff 1m Berg ist eine "ungereimte Vor- stellung". "Doch auf das Ungereimte kommt es manchmal an.” (8.5) Das Ungereimte, das mit dem Verstand nicht zu Begrei- fende, das Unwegbare soll hier zu Wort kommen. Das grausame, dem Zufall preisgebende und im Grunde doch planvolle Spiel der Natur soll sich dem Menschen offenbaren und ihn trdsten. Gaisers Buch ist trbstlich; denn es dffnet dem in den Prob- lemen der Vergangenheit und Gegenwart verfangenen Menschen de n Blick fur die grossen kosmischen Zusammenhange des Daseins. Trdstlich ist auch die Hoffnung auf das Schiff, das in dem.Berg eingeschlossen sein soll und vor den durch Zauber gebffneten Augen das ihm ungemasse Element durchdrin- gen wird, wenn Menschenleid und Not far immer von der Erde getilgt sind. "Das Schiff ist fibrigens nicht herausgekom— men,"(8.l9l) erfahrt Hagmann am Ende, doch er und auch einige andere haben es gesehen: das Gluck des Daseins, der Liebe, des Rausches, sogar des Untergangs. Dem Sehenden erscheint es als Bild, das wieder verschwindet. Sowie das Gluck ver- ganglich ist, erscheint auch das Bild nur vorflbergehend. 34 Es kommt eben nicht auf die Dauer an, sondern auf das Bild. Mit dieser Aussage schliesst Gaiser, der als Maler zum Bild neigt, und meint damit, dass die geschauten Bilder eine macht- vollere Wirklichkeit sind als der hundertfache Tod, dass hin- ter allem.Untergang ein dem menschlichen Auge verborgener Sinn liegt. Der Erforscher des Berges, Peter Hagmann, begnfigt sich nicht damit, Gesteinsproben zu katalogisieren und Brdschichten zu analysieren. Er hat weltgeschichtliche und erdgeschichtliche Zeitraume im.Blick. Uberall findet er Verschwendung und Un- tergang. Er notiert: Gras und Staub. Der Mensch auch wie Gras, wie das niedrig- ste Leben, eine Beute des Zufalls, Ursachen und Wirkungen unterworfen. Ein kleines Loch, eine geringe Geschwulst ver- dirbt ihn, er krummt sich und muss hinab und ist wie nie gewesen. Das ist das einzige, was ich sehe, dass es ihn er— hebt uber Gras und Fleisch: dass er den andern nicht aufge- ben will. (3.21) Der Mensch kommt, und bevor er Ziel und Ruhe gefunden hat, geht er zugrunde. Verganglich wie die Pflanzen und Tiere unterscheidet er sich doch von allen anderen Kreaturen durch die Liebe und Geduld, die er seinen Hitmenschen schenken kann. Er gibt den andern nicht auf und gibt sich selbst nicht auf. Ifiagmann ist wie Oberstelehn ein Kriegsheimkehrer, auch er "ein einfacher Mensch, kam von weit und war nirgends mehr zu- hause.“ (8.9) Der Held des Buches ist kein Held. Gelassen :grabt und notiert er mit seiner Kollegin in der verwaschenen 35 Bluse. "...er kannte viel Stfickwerk; er dachte, ein Ganzes zu kennen, ware nicht schlecht." (8.9) In seiner selbstge- stellten Aufgabe findet er ein neues Ziel und schliesslich neuen Glauben an den Menschen, der seinen Hachsten nicht aufgibt. Er erkennt, dass der Mensch als Krone der Schbpfung den anderen Lebewesen fiberlegen ist und sich durch liebende und mitleidende Hingabe an den anderen selbst fiber Qual und Verwesung hinwegsetzen kann. Hagmann selbst ist bedfirftig, "so elend wie alle Menschen damals, die am Hunger, an der immerwahrenden Tauschung, am Mangel an Zeit erkrankt waren..." (8.8) Und doch bringt er genug Liebe auf, um sie seiner bedfirftigeren Mitarbeiterin zu schenken, die in Hader und Gram erstarrt ist. Sie ist gleichgfiltig geworden gegen das Leben und gegen sich selbst, alles in allem, "ein mfirrisches und fahles Stfick Mensch." (8.7) Auch Hagmann nimmt die Menschen anfangs nicht mehr wichtig. Wichtig ist ihm nur die neue Aufgabe, die Historie des Berges, und er muss wohl durch die ganze Geschichte des Berges hindurch, um.den Menschen wiederzufinden. Doch er findet die Liebe und den Menschen in Frau Lfihr, der Verge- waltigten. Ohnmachtig, dachte Hagmann, eine Beute des Zufalls, das Leben mfihselig schleppend, der Angst unterworfen, geschan— det von der Gewalt. Aber es war kurz, das Menschenspiel. Von der ersten Menschenspur an bis heute hat dieser Berg 36 vielleicht ein paar Schritte an Breite verloren. Fangen wir also an. (8.9) Zn Anbeginn der Zeit beherrschte das Wasser unseren Planeten. Regen und Meeresflut "runzelten" seine Haut und bauten immer - wieder ab, was gerade aufgebaut war, "eine Allmacht spielte, wie Kinder spielen." (8.13) Doch endlich bildete sich eine aus dem Meer emporragende Barre, der heutige Berg. Der Berg, vom Meer freigegeben, blieb nicht leer, eine Schichtung von Erde und Gestein, sondern bedeckte sich mit Grfin und belebte sich. Jetzt trat das Grfine heraus, das den Berg wie ein Vliess fiberzog. Das Grfin dampfte, Zimmet, der bittere Lorbeer; Balm, Baum.und Rute bogen sich unter nasser Last; es wipp— te und rauschte von Leben, das zeugte und sich vernichtete. Leben unstillbar, das Leben zerstdren muss, um zu leben, unausweichliche Schuld, verhasstes, brfinstiges Leben. (8.14) Die ersten Menschen kamen auf den Berg Schutz und Nahrung suchend. Sie gebrauchten keine Gewalt und lebten auf ihm wie die Tiere. "Sie legten nicht Hand an den Berg, und der Berg ertrug sie, wie er Wild und Vfigel ertrug, sie liessen an ihm keine Narben." (8.21) In seinen,Uranfangen ist der Mensch harmlos und anspruchslos, er entsteht und vergeht, ohne Spuren seiner Gewalt zu hinterlassen. Wieder kam das. Wasser und wetzte, schnitt und hdhlte den Berg. Trichter, Wannen und Graben entstanden. Wieder kamen die Menschen. Ihnen war der Berg heilig als Ruhestatten ihrer Toten und Sitz ihrer Gdtter. 37 ...die Hirtensippen des Landes zogen allmahlich fiber den Berghals herein und nahmen Heide und Weidebusch in Besitz, und manche liessen sich nieder. Sie blieben und erbten und begruben ihre Toten dort auf der Hdhe so, dass die runden Hfigel nah an den Steigen und Schaftrieben lagen. (8.34) Die lekerwanderung zog fiber den Berg hinweg. Die Kfimpfe der Stamme und Rachezwiste der Sippen forderten viele Men— schenleben; ob sie erlagen oder lebten, war Zufall. "Die Vergfinglichkeit tat ihren Rachen auf." (8.36) Menschen ver- nichten sich gegenseitig und fallen der Naturgewalt zum Opfer. So kommt es, dass der Berg wieder lange Zeit unbewohnt ist. Dann besteht seine Historie-—wie Hagmann notiert--"aus seinen Frfihlingen, seinen Sommern, seinen Herbsten und seinen Win- tern. Sie besteht aus seinen Pflanzen und dem.Leben der Tiere auf ihm. Der Mensch transitorisch." (8.29) Siedlungen entstanden, die ersten Christen bauten eine klei- ne, weisse Kirche mit einem Friedhof auf der frfiheren ger- manischen Opferstatte. Sie brachen Weideland um, rodeten die bewaldeten Berghange und pflanzten Weinstdcke. Der zum Bewusstsein seiner selbst erwachte Mensch tritt die Herr- schaft'fiber die Erde an und macht sich die Krafte der Natur nutzbar. Die Befestigungen der Rfimer und Kelten waren ver- fallen, und vor dem Erscheinen der Christen lag der Berg lange verlassen. Er war verrufen, und das Leben im Vorland weit weniger mfihsam und gefahrvoll. Immer wiederholt sich der Wechsel von Untergang und Auferstehung, menschliche Spuren 38 verwischen sich; die Jahreszeiten, die Gewitter kehren wieder. "Die leeren Stellen machen die Zeit", notiert Hagmann. Der dreissigjahrige Krieg tobiefiber den Berg, Tod, Krank- heit und Hungersnot mit sich ffihrend. .Wieder lag der Berg von menschen unbewohnt. Nur ein zurfickgelassenes Pferd, "ein armseliges Stfick Kreatur, schlecht gehalten und wenig ernahrt" verwilderte dort oben. Es brash wie der Teufel aus dem Ge- strfipp hervor und erschreckte die Wilxinger Kinder, die zum Beerensammeln auf den Berg gekommen waren. Ohne sich auf die Richtung zu besinnen flfichteten die Kinder vor dem wilden Pferd und einem gerade aufziehenden Gewitter. Noch einmal schoss das Tier aus den Bfischen auf sie zu und brach im Sprung zusammen, vom Blitz getroffen. Bin Wunder hatte die Kinder vor Gefahr und Unwetter bewahrt. Es starkte den Glauben der Dorf- bewohner, dass die Macht der Damonen, der rotstrfimpfigen Ur- schel und ihre Helferinnen, gebrochen war. 9 Das 19. Jahrhundert vermehrte die Zahl der Menschen erheblich und stellte die "Historie der Nutzbarkeit und die Nutzbarkeit der Historie" in den Vordergrund. Eisenbahnen, Fabriken, mn- schinen, anderten das Leben der menschen. Auch der Berg wur- de vom Fortschritt berfihrt und dem Prinzip der Nutzbarkeit entsprechend sein Wald forstamtlich reglementiert. Doch der ‘TBerg rachte sich an einem Hensohenleben: er liess einen Jun- gen, einen angehenden Naturwissenschaftler, der aus Neugier 39 in eine Erdspalte gesprungen war, einsam, langsam und grass- lich zugrunde gehen.. Der Junge war nur wenig fiber Armlange von dem rettenden Hdhlenrand entfernt, doch "herablassen kann sich der Mensch, aber sich hinauflassen kann er nicht." (8.110) Ungehfirt rief er um Hilfe, er betete, er lasterte Gott. Der Junge sah pldtzlich die ganze Erde fiberzogen von sol- chen Fallen, fiberall war etwas gefangen und mfihte sich stumpfsinnig und verwundert und zog endlich die Glieder an sich und wurde still... Schon wer sich ernahrt, zerstfirt Leben, und wer Leben meh- ren will, muss anderes Leben