II III III!!! Mill/ll III!!! ”II III II!!! III! II ”I’ll/111511115111! This is to certify that the thesis entitled DIE FRAUENGESTALTEN IN THEODOR FONTANES BERLINER ROMANEN: ROLLE UND FUNKTION IN DER DARSTELLUNG DES KONFLIKTS ZWISCHEN INDIVIDUUM UND GESELLSCHAFT presented by Barbara E. Kienbaum has been accepted towards fulfillment of the requirements for Ph . D . degree in German /7laA/\ (9va Major professor Date November 10, 1978 0-7539 lg) DIE FRAUENGESTALTEN IN THEODOR FONTANES BERLINER ROMANEN: ROLLE UND FUNKTION IN DER DARSTELLUNG DES KONFLIKTS ZWISCHEN INDIVIDUUM UND GESELLSCHAFT By Barbara E. Kienbaum A DISSERTATION Submitted to Michigan State University in partial fulfillment of the requirements for the degree of DOCTOR OF PHILOSOPHY Department of German and Russian 1978 6mg7¢a ABSTRACT DIE FRAUENGESTALTEN IN THEODOR FONTANES BERLINER ROMANEN: ROLLE UND FUNKTION IN DER DARSTELLUNG DES KONFLIKTS ZWISCHEN INDIVIDUUM UND GESELLSCHAFT By Barbara E. Kienbaum This dissertation examines the female characters in Theodor Fon- tane's Berlin novels in light of their problematical relationship to their society. In each variation of female character portrayals, Fon- tane creates a role which, by implication, is socially critical of their existing status. He demonstrates such critical antitheses in the fol- lowing ways: a) the resignation of women in the face of existing social realities, as in Stine and Irrungen Wirrungen, b) the passive suffering of women, induced by their condition of total helplessness in confined societal roles, as in Cecile and Effi Briest, c) the cynical charicature of the so-called ideal woman of the emerging bourgeoisie, as in Frau Jenny Treibel, d) the rebellion of women against the demands of their particu- lar roles, whereby they become successful in their struggle for new identification, as in Mathilde Mbhring and L’Adultera. Each chapter of the dissertation investigates the role and function of the women characters from the perspective 0f the particular social relationship influencing and determining the behavior. In "Misalliance" members of different social classes interact and show that individual happiness is impossible (Irrungen Wirrungen, Stine). In "Marriage" members of the same social class respect the traditional norms of Barbara E. Kienbaum society and perpetuate the institution, with varying outcomes for the individual (Cecile, Frau Jenny Treibel, Mathilde Mbhring). In "Adul- tery" the woman, condemned to a passive, fixed role in life, breaks out of the confining restraints of her socially determined marriage (L'Adultera, Effi Briest). Thus, in their attempt to break with tradition, only the female characters in Fontane's Berlin novels represent true individuality; they function as vdsionaries of a better future. Men are portrayed as mem- bers of the collective, whereby they represent the status quo and func- tion as promoters and perpetuators of that which gives them economic security and which guarantees the continuation of the outward superiority of their sex. Traditionally, women had been victims rather than initia- tors of the social norms which determine their lives. From this situa- tion, Fontane demonstrates that women have developed an intuitive insight into the problems of their social environment. And even though only the men in these novels are in a position to improve or change existing conditions, they either lack the insight with which to appreciate the benefits of change, or if they do, they lack the courage and will to initiate change. The reader is left to recognize the connection between the psychological, social or economic suffering of the women characters and the strictures of society which cause their plight. Therefore, the female characterization delineates inadequacies and injustices of the out-dated social system of Fontane's time as well as makes a profound statement of universal value. An meine Eltern An dieser Stelle mochte ich meinem "Doktorvater", Professor Mark Kistler, einen besonderen Dank aussprechen, durch dessen Geduld, unermUdlicher Aufmerksamkeit und Ratschlage diese Arbeit beendigt werden konnte. FUr seine stilistische Hilfe und Kommentare schulde ich Herrn Professor Kurt Schild meinen ganz aufrichtigen Dank. Den Mitgliedern meines Komitees, Professor Heinz Dill und Professor Raimund Belgardt, danke ich fUr ihr aufmerksames Lesen dieser Arbeit und die daraus entstandenen Verbesserungen. m INHALTSVERZEICHNIS EINFUHRUNG ........................... I. MESALLIANCE ........................ Lene ........................... Stine ........................... II EHE ............................ Cécile .......................... Jenny ........................... Mathilde ......................... III. L'ADULTERA ........................ Melanie ......................... . E771 ........................... EXKURS ............................. (Exkurs Uber den Mandel der Thematik im Spatwerk Fontanes und deren Darstellung im Stecthn) ZUSAMMENFASSUNG ......................... ANMERKUNGEN ........................... BIBLIOGRAPHIE .......................... 136 139 144 EINFUHRUNG Die geographischen Orte, Berlin und Brandenburgerische Mark, sind Schauplatze, in denen Theodor Fontane das unmittelbare Geschehen seiner Zeit dichterisch-journalistisch vor uns erstehen labt. Das Berliner Milieu ist so intensiv erfaBt, daB es zu einer unmittelbareren, er- fahrenen wirklichkeit der zeitgenossischen, alltaglichen Welt wird. "Fontane ist in seiner Ara der einzige deutsche Schriftsteller von Rang, der so etwas wie Zeitromane schreibt", sagt Richard Brinkmann in seinem Nerk Uber den Dichter.1 Die Absicht des Dichters besteht darin, den Gesellschaftszustand seiner Zeit dichterisch und journalistisch zu erfassen. Fontanes Berliner Romane geben ein interessantes Bild der Zeit nach dem Krieg der 70er Jahre, das PreuBen auf dem thepunkt wirtschaft- licher Konjunktur zeigt. Es ist ein Zeitbild der kontemporaren Gesell- schaft. Die GroBstadt selbst tritt nie als Gegenspieler auf, wie dies bei den Naturalisten haufig geschieht, wo die Stadt die Bewohner in ihren Bann zieht. Die Stadt an sich ist nur Kulisse, vor der sich das Schicksal der Menschen abspielt. Mit Ausnahme von Irrungen Wirrungen tragen alle Berliner Zeitromane den Namen einer Frau als Uberschrift. Auch L'Adultera solle Melanie van dér Straaten als Titel tragen. In allen ist eine Frau die Tragerin der Handlung, welche mit ihrem Schicksal zum zentralen Fokuspunkt des Romangeschehens wird. Diese Arbeit soll die Berliner Romane (Effi Briest mit einge- schlossen) behandeln, in denen die Frauenfiguren ausschlaggebend sind, zu Protagonisten der Handlung werden und durch ihr ganz personliches Schicksal den Lauf der kontemporaren Zeit in Frage stellen. Die zen- trale menschliche Figur, in diesen Romanen die Frau, ist nicht der Reprasentant eines Kollektivs, sondern ein Mensch, der um seine Indivi- dualitat ringt, da er von der Gesellschaft zum Konformismus gezwungen werden soll. Meistens kommt es aber nicht zu einer Rebellion der Charaktere, sondern die Problematik zwingt zur Resignation. Diese Resignation ist nicht ein Sich-Einngen oder Akzeptieren des Diktats der Gesellschaft, sondern ein existentielles Erkennen der menschlichen Ohnmacht gegenUber dem allmachtigen Gesetz des Kollektivs. Es sind die weiblichen Gestalten, die die Gesellschaft zwingen, eine Inventur der gesellschaftlichen Normen vorzunehmen und damit zu einem kleinen Ver- schieben der strengen moralischen Gesetze zu provozieren. Eine solche dichterische Behandlung des Stoffes laBt einen Zustand in dem BewuBtsein oder auch UnterbewuBtsein des Lesers entstehen, der Alternativen ver- langt. Es konnte auch anders gehen, oder es muB nicht so sein, wie es ist. Hans-Heinrich Reuter schreibt: Das Schicksal, das der Frau in der Praxis der herrschenden Klassen bereitet ist, in der Theorie vorgezeichnet von deren erwahltem und erklartem Ideologen, wird fUr Fontane zum typischen, "bedeutenden" Exempel und Menetekel eines allgemeinen gesellschaftlichen wie sittlichen Notstandes. Sein gesamtes Alterswerk ist in diesem Betracht als ein einziger Akt kritischer Oberwindung zu verstehen.2 Liebe zwischen den Geschlechtern ist nur selten realisierbar und wenn dann nur von ganz kurzer Dauer. Sie ist kein personlich-romanhaftes Thema, sondern eine Behauptung individueller BedUrfnisse gegenUber einer 3 verklemmten Gesellschaftsordnung. In seinem Aufsatz, "Fontane und die Gesellschaft", meint Hermann LUbbe: Die Liebe in ihrer elementaren, aller soziologischen Zuord- nung entrUckten Unmittelbarkeit ist fUr Fontane menschlich und literarisch unproblematisch. Erst der Konflikt mit der Gesellschaft, in den zwangslaufig verwickelt wird, wessen Liebe und Leben einen konventionellen Ort nicht hat, macht sie zu einem literarischen Thema. Der Konflikt selbst ist das Thema, und in diesem Sinne die Gesellschaft, die ihn erzwingt, wenn sie ihre Ordnung durch das Ereignis schlecgthinniger, konventionsloser Menschlichkeit bedroht sieht. Mag das Thema "Liebe" fUr Fontane zu unproblematisch sein, es ist gewiB, daB ihm die ganze Thematik nicht lag: Liebesgeschichten in ihrer schauderbsen Ahnlichkeit haben etwas Langweiliges - aber der Gesellschaftszustand, das Sittenbildliche, das versteckt und gefahrlich Politische, das diese Dinge haben .. . dds ist es, was mich so sehr daran interessiert.‘i Zwei Briefe aus dem Jahre 1883, an seine Frau geschrieben, geben weiteren AufschluB zu dem Thema "Liebe". Am 15. Juni schreibt er: "Im Uebrigen weiB ich sehr wohl, daB ich kein Meister der Liebesge- schichte bin; keine Natur kann ersetzen, was einem von Grund aus fehlt." Am 19. Juli erklart er: Was frUher die jungen Damen an mir versaumt haben - worUber ich jetzt sehr milde und beinah dankbar denke - holen die alten nach. Beiden liegt wohl ein richtiger Instinkt zu Grunde: die jungen fuhlten heraus, daB Liebe nicht meine Force war, und die alten fUhlen jetzt heraus, daB ich ein artiger und amUsabler alter Herr bin. Irgendwie kommt man immer auf seine Kosten. Das nicht Selbsterlebte verharrt fUr Fontane zu sehr in der Distanz, um es dichterisch bewaltigen zu konnen. Am 30. Dezember 1891 schreibt er an Otto Brahm: Liebe, Liebe, Liebe. Ich habe selbst zu der groBen antiken Leidenschaft kein rechtes Fiduz, weil mir auf meinem, bis nun gerade heute zweiundsiebzigjahrigen Lebensweg nichts vorgekommen ist, was unter der Rubrik "antike Leidenschaft" unterzubringen ware. Es mischt sich immer sehr viel haB- licher Kleinkram ein, der mit der Erhabenheit der Gerhle nichts zu schaffen hat. Dennoch wenn meiner personlichen Beobachtung auch fern geblieben - ich will in dieser Sache nicht eigensinnig sein und will ohne weiteres zugeben, daB eine groBe gewaltige Leidenschaft vorkommt und als solche nicht bloB rUcksichtslos ihres Weges schreitet, sondern weil elementar, auch schreiten darf. Die mannlichen Romangestalten reprasentieren die DUrftigkeit der Gesellschaft, an der die Frauen scheitern. Die Manner, die diesen Frauen gegenUberstehen, sind durchaus schwach gezeichnet und geben dadurch den Frauencharakteren eine dominierende Stellung im Handlungs- verlauf. Eine Ausnahme bilden die adligen Figuren Cécile und Effi, deren Passivitat zu einer Antithese wird. "Schon aber schwach" ist eine ganze Kategorieneinstufung des GrbBtenteils der mannlichen Lieb- haber. In dem Nerk Unwiedérbringlich, das weder ein Zeit- noch ein Berliner-Roman ist, faBt Fontane die Eigenschaften seines mannlichen Helden so zusammen: Holk, so gut und vortrefflich er war, war doch nur durch- schnittsmaBig ausgestattet und stand hinter seiner Frau, die sich hoherer Eigenschaften erfreute, um ein betracht- liches zurU‘ck.5 Die Mannergestalten stellen die Vertreter der Welt- und Staats- ordnung dar. Es sind ihre Gesetze, welche ein Offensein gegenUber dem Neuen ausschlieBen. Frauen konnen diese veralteten Werte in Frage stellen und sie auch manchmal brechen: "'Ihr seid auf die Unruhe ge- stellt'", sagt van der Straaten in L'Adultera zu seiner Frau, die im Begriff ist, ihn eines Liebhabers wegen zu verlassen.6 Mit dem "ihr" meint van der Straaten die Frauen im Generellen. Es ist diese Unruhe, die von den Mannern nicht geteilt wird und die nach neuen Megen und Mbglichkeiten sucht. Es entwickelt sich dadurch eine Spannung zwischen der Bewahrung erkannter und respektierter Werte und dem Drang und Suchen 5 nach Fortschritt und neuen Zielen, welche dem Einzelmensch ermbglichen, sich selbst zu entfalten. Je niedriger die Volksschicht, in die eine Person geboren wird, desto grbBer ist die Intensitat ihres Strebens. Mathilde Mbhring ist die Kulmination dieser Sinnesrichtung. Sie ist die einzige der Fontane- Frauen, die sich aus den Restriktionen ihres Milieus herauskampft. Auf sich selbst gestellt, beginnt erst ihre eigene Existenz. Ein Teil selbst der neueren Sekundarliteratur hat sich mit dieser Richtung der Auslegung noch nicht befreunden konnen. Hedwig Spier schreibt in ihrer Disserta- tion, “Theodor Fontanes Neltbild und Trager seines Gesellschaftsromans": "Es gibt zwar ein paar prachtvolle Frauengestalten der unteren Volks- klasse, doch im groBen Ganzen ist der Proletarier und KleinbUrger eine lacherliche Figur."7 Es wird in der vorliegenden Arbeit versucht, diese Auffassung zu widerlegen. Liest man den groBten Teil der alteren Fontane-Sekundarlite- ratur, bekommt man den Eindruck, was ffir ein enormer Vertreter der kon- temporaren Gesellschaftsordnung Fontane gewesen sei. Mit der Herausgabe der Friedlaender-Briefe im Jahre 1954 und dem Erwerb weiterer Briefe, hauptsachlich die an seine Tochter Mete, von der preuBischen Staatsbiblio— thek Berlin (28.11.1963), bleibt kein Zweifel Uber die zeitkritische Einstellung des Autors. Kurt Schreinert schreibt in der Einleitung der Friedlaender-Briefausgabe: Fontanes Haltung, vornehmlich in der Spatzeit, ist durchaus nicht die eines "heiteren DarUberstehens", eines wissend- gelassenen Herniedersehens auf die Schonheit, die Nunder- lichkeit, die Frangrdigkeit des Lebens und der Welt, sondern vielmehr die einer tiefen skeptischen Erregtheit, wie sie in den Briefen anderer Zeitgenossen nur selten in ahnlicher Starke begegnet.8 In der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts gibt es nur zwei Nerke, die sich mit der Frauengestaltung im Werk Fontanes befassen: Frauenge- staltung bei Theodbr antane von Lore Grages und antanes Frauengestalten von Else Croner.9 Doch in beiden Arbeiten gelingt es den Autorinnen nicht, eine durchgehende Thematik in der Frauengestaltung zu entwickeln. Der "Modernste" der frfihen Literaturkritik bleibt ohne Zweifel Conrad Wandrey, der in seinem Buch fiber Fontane die kritische Einstellung Fontanes gegenfiber seiner Zeit beleuchtet.1° In der neuen Forschung ware besonders Hans-Heinrich Reuter zu erw'a’hnen.11 Im zweiten Band seines Fontanewerks, nfit.besonderer BerUcksichtigung der Kapitel 8 (Schopenhauer), 9 (Ein Triptychon) und 10 (Von Cécile zu Mathilde), behandelt Reuter die Frauengestaltung bei Fontane. In Theodbr Fontane. sziale Rbmankunst in Deutschland bringt Walter MUller-Seidel die Fontane-Forschung auf den gegenwartigen Stand und prasentiert die voll- standigste Auslegung der sozialkritischen Gesinnung Fontanes.12 Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die Erfassung und Darstellung der motivischen Varianten ganz bestimmter Frauenrollen und deren Bedeutungen. Sie analysiert zunachst die motivische Entfaltung der Frauenrollen und kommt erst spater zur Diskussion von deren ideellem und intentionalem Hintergrund. In den Berliner Romanen kann man ein dialektisches Vorgehen ver- folgen: der zentrale Konflikt zwischen Mann und Frau lost sich zu einem Konflikt zwischen Jung und Alt oder besser ausgedrUckt zwischen Alt und Neu auf. Der preuBische Staat, Bismarck und der Adel reprasentieren das Alte; das Neue, am Anfang auch fUr Fontane noch etwas unheimlich und sich in Ambivalenz ausdrUckend, ist die aufstrebende Sozialdemokratie. Ein intensiver Alt-Jung-Konflikt entsteht in denjenigen Ehen, wo die Partner einen groBen Altersunterschied aufWeisen (Effi Briest und 7 L'Adultera). Die Manner sind dort um vieles alter als ihre Frauen, und dies ist nicht nur von Fontane so gezeichnet, weil es ein gesellschaft- liches Phanomen seiner Zeit war. In Mbsalliance, d.h. in auBerehelichen Beziehungen zwischen Vertretern ungleicher gesellschaftlicher Ebenen, sind es die proletarischen Frauen, die die Schwache in ihren aristo- kratischen Partnern erkennen (Stine und Irrungen Wirrungen). In der Ehe, als sanktionierter Institution der Gesellschaft, karikiert Fontane in Jenny Treibel die leergelaufenen bUrgerlichen Nerte, wobei der Da- seinszweck der Partner darauf hinauslauft, angesammelte materielle Gfiter zu behalten und zu vermehren. In der Welt des Adels wird die Ehe zu einer erstarrten Institution, welche den Untergang gegen ihre Rolle rebellierender Frauen erzwingt (Effi Briest und Cecile). Ehebruch wird ffir die bUrgerliche Melanie van der Straaten Flucht und neuer Anfang, fUr die adlige Effi Briest ein bemitleidenswertes Leiden, Siechtum und Tod. Aber auch in der Resignation und im Leiden behalt die Frau eine aktive Funktion: sie fungiert als das Werkzeug eines neuen Gedankens. Alle Varianten der Frauenrollen in Fontanes Berliner Romanen dienen der selben Funktion: sie sind sozial-und ideenkritisch. Es gibt nur verschiedene motivische Entfaltungen der Variationsmoglichkeiten einer immer gleichen Problematik: auf der einen Seite Konflikt im Individuum selber zwischen Sollen und Mollen, Geffihl und Vernunft, privater und offentlicher Person; auf der anderen Seite der Mensch als Gesellschaftswesen, Zugehbrigkeit zu einer bestimmten Gesellschafts- schicht, Annahme und Ablehnung der Rolle, Resignation oder Protest. Zwecks poetischer Demonstration der Komplexitat der moglicherweise kollidierenden Schichten, sei es personlicher oder sozialer Natur, 8 muB Fontane regelmaBig Komplimentarcharaktere schaffen, um seine Inten- tion besser zu verwirklichen. Wie zum Beispiel die Aufspaltung in die Rolle der alteren, erfahreneren, distanzierten Frau, die er dann der jUngeren, gerhlsmaBig handelnden gegenUber stellt: Frau Dbrr in Irrungen Wirrungen, Pauline Pittelkow in Stine. Nur Mathilde Mohring als letzte der Frauen in den "Frauenromanen" lehnt die romantische Rolle der Frau total ab und entscheidet sich fUr die rigorose Selbstbehauptung in der Form sozialen Aufstieges, wobei der Mann zum Instrument reduziert wird. Das Schaffen solcher Frauentypen, die die Enttauschung Uber das Scheitern ihrer Hoffnung Uberleben und aus der Distanz ihrer Erfahrung heraus die Triebkrafte der Gesellschaftsstrukturen ihrer Zeit erkennen, laBt auf einen vorsichtigen, politischen Optimismus des Realisten Fon- tane schlieBen. Auch in seinem Werk ist es "das Los des Schonen auf der Erde" (Schiller, WhZZenstein), von adversativen Kraften verletzt zu werden. In Figuren wie Witwe Pittelkow und Frau Dorr prasentiert Fontane eine zweite Lebenschance des Menschen. Dieser Frauentypus hat die Verletzung durch die Welt Uberwunden und sich eine realistisch- illusionslos-neue Daseinsmoglichkeit geschaffen. Dadurch gewinnt aller- dings gleichzeitig die Gesellschaft aus den Erfahrungen der Betroffenen und hat die Chance, die GesetzmaBigkeiten gesellschaftlicher Interaktionen zu durchschauen und mbglicherweise zu verbessern. Beide Frauentypen, die naiv Intuitive und die distanziert Erfahrene, erschopfen die Variationsmoglichkeiten weiblicher Charaktere bei weitem nicht. Im Folgenden sollen die Texte der Berliner Romane Fontanes daraufhin analysiert werden, welche weiteren Frauentypen die immer gleiche soziale und persdnliche Problematik zur Darstellung bringen. 9 Es darf vorwegnehmend angedeutet werden, daB der Dichter offenbar die Mbglichkeiten weiblicher Schicksale in einem klar strukturierten Dar- stellungsschema behandelt und variiert. Dabei sind die jeweiligen determinierenden Faktoren: a) die soziale Herkunft der Charaktere, aus Adel, BUrgerwelt oder Proletariat; b) die Kombinationen der Verhaltnisse zwischen Reprasentanten der sozialen Schichten; und c) das jeweilige Verhalten der Charaktere innerhalb der Zwange der sozialen Gegebenheiten. Es besteht kein Zweifel, daB Fontane dem schwacheren Geschlecht eine ganz bestimmte Rolle zugedacht hat: "'die Frauen sind geborene Seher'", sagt Petersen in unwiederbrtnglieh.13 I. MESALLIANCE Lene In ihrer Dissertation, "Die sozialen Schichten in den Berliner Romanen Theodor Fontnaes", erkennt Marianne Zerner Fontanes Sympathien fUr die unteren Volksschichten und nennt seine gesellschaftliche Orientiereung die Mendung zum Volk, welche das Ergebnis seiner letzten literarischen Entwicklung gewesen sei.1 AuBer in seinen Berliner Milieu-Romanen gibt der Dichter durch seine Korrespondenz AufschluB Uber diese neue politische und asthetische Sinnesrichtung. In einem Brief vom 22. Februar 1896 an James Morris steht: Des, was die Arbeiter denken, sprechen, schreiben, hat das Denken, Sprechen und Schreiben der altregierenden Klassen tatsachlich Uberholt. Alles ist viel echter, wahrer, lebens- voller. Sie, die Arbeiter, packen alles neu an, haben nicht bloB neue Ziele, sondern auch neue wege. Die untere proletarische Sphare ist der Hauptschauplatz in den Romanen Irrungen Wirrungen und Stine.2 Nur kurze Kapitel spiegeln die Melt des Adels, und diese funktionieren dann immer als Kontrast zu dem einfachen aber aufrechten Milieu der unteren Volksschichten. Das Leben der adligen Figuren wirkt neben dem der lebendigen Charaktere aus dem Volk nichtig und belanglos; das, was jene besitzen, ist hohle gesellschaftliche Form und nichtssagende Liebenswfirdigkeit. Das Leben, wie die adligen Figuren es kennen, hat nur sie selbst zum Inhalt. "Beati possidentes", wie es in Stine heiBt (Stine, S. 231). Tiefere menschliche Konflikte kennen sie nicht, denn mit liebenswUrdigem und 10 11 jeweils passendem Benehmen kann man allen Konflikten aus dem Mege gehen und auf der Oberflache des Daseins dahingleiten. Irrungen Wirrungen nennt man ofters den Schwesterroman von Stine. Fontane war sich der Ahnlichkeiten seiner zwei Werke bewuBt. Am 3. Januar 1888 schreibt er an Emil Dominik: "Stine" ist das richtige Pendant zu "Irrungen, Wirrungen", stellenweise weniger gut, stellenweise besser. Es ist nicht ein so breites, weite Kreise umfassendes Stadt- und Lebensbild wie "Irrungen, Mirrungen", aber an den entscheidenden Stellen energischer, wirkungsvoller. Die Hauptperson ist nicht Stine, sondern deren atere Schwester: Mitwe Pittelkow. Ich glaube, sie ist eine mir gelungene und noch nicht dagewesene Figur. Das Grundproblem ist in beiden Romanen das gleiche: die Problematik von Liebesverhaltnissen zwischen Vertretern ungleicher gesellschaftlicher Ebenen. Ein Madchen aus der unteren Volksschicht verliebt sich jeweils in einen jungen Reprasentanten des Adels. Das Thema ist nicht nur eine soziale Mesalliance zwischen Vertretern des Gesunden und Starken mit Vertretern des MUden, Schwachen und Kranklichen. Diese Reprasentanten ungleicher sozialer und physischer Eigenschaften prasentieren darUber hinaus utopische humane Werte einer Menschheit, wie sie sein konnte. und sie zerbrechen an der Unmenschlichkeit und Starrheit des gesellschaft- lichen Status quo. Die Problemlosung in beiden Romanen liegt in der Entsagung der Frauen. In Irrungen Wirrungen kampft sich Lene nach tiefer seelischer ErschUtterung zu einer positiven Existenz innerhalb des Rahmens bUrger- licher Erwartungen durch. Sie rettet ihr Gleichgewicht inmitten der menschlichen Gesellschaft. FUr Stine ist der Ausgang katastrophal: ihre Entsagung fUhrt zu dem Tod des geliebten Mannes, und ihr eigenes, zukUnftiges Schicksal bleibt ungewiB: Stirbt sie auch? Mird sie un- glUcklich bleiben? Ist sie fUr den Existenzkampf zu schwach? Kann ihr 12 Charakter vor den Anforderungen der Wirklichkeit bestehen? Mas besitzt Lene, das Stine offenbar fehlt? Die jeweiligen Hauptfiguren in den beiden Romanen sind struktural in der Form eines Dreiecksverhaltnisses aufeinander bezogen. Beide Paare, Stine und Waldemar, Lene und Botho, haben rein menschlich vieles gemeinsam, sind aber durch Klassenunterschiede weit voneinander getrennt. Nie ein ruhender Pol steht je eine andere wichtige Frauenfigur in dem Zentrum des Romangeschehens: Pauline Pittelkow in Stine und Frau Dorr in Irrungen Wirrungen. Die Funktion dieser Gestalten liegt darin, durch kontrastierende Erlauterungen die Exposition des Romanes aufzubauen und durch fortwahrenden Kommentar die Handlung zusammenzuhalten. Diese Frauenfiguren haben die Uberlegenere Einstellung zum Leben. Fontane hat sie besonders scharf gezeichnet. Er entfaltet ihre Charaktere zu leben- diger Plastizitat und erhebt sie fiber den Status von Reprasentanten abstrakter Ideen hinaus. Das spezifische Sprachgebahren des echt Ber- linerischen hat Fontane bei beiden Frauen auf das Genaueste getroffen. Dieser Sprach- oder Dialekteffekt gibt den Romanen ihre besondere MUrze, ihren Sprechern eine besonders kraftige Lebensnahe, welche wieder als Kontrast zu dem polierten, hochgestochenen Sprachstil des Adels dient. Doch die Romane beabsichtigen keine tiefere Milieuanalyse, sie Uben Kritik an Konventionen und starren gesellschaftlichen Kategorien, welche das Individuum daran hindern, den Weg zu seiner Selbstverwirklichung zu finden. Die reichhaltige Korrespondenz Fontanes aus der Schaffenszeit dieser zwei Romane demonstriert, daB sich Fontane schriftstellerisch einem "dunklen Drange" Uberlassen hat und sich selbst nicht ganz Uber den Romanverlauf im voraus im klaren war. In einem Brief vom 14. Mai 13 1884 an seine Frau steht: Meine ganze Produktion ist Psychographie und Kritik, Dunkel- schopfung im Lichte zurechgerfickt [l]. Ein Zufall hat es so gergt, daB ich diese ganze Novelle [Irrungen Wirrungen] mit halber und viertel Kraft geschrieben habe. Dennoch wird ihr dies schlieBlich niemand ansehn. Dies spricht gegen die Ubliche Auffassung, daB Fontanes "Wendung zum Volk" aus der objektiven Perspektive eines Journalisten geschehen sei, aber es laBt den Eindruck aufkommen, daB der Dichter Fontane sich dem kreativen Geffihl des UnterbewuBtseins Uberlassen hat, welches ihn in eine Richtung steuerte, die ihm selbst nicht immer offenbar war. Ein Brief vom 13. Juni 1888 an Paul Schlenther gibt weiteren Einblick in die Weise seines Schaffens: Ich mochte noch ein Wort sagen dUrfen. Ich schreibe alles wie mit einem Psychographen (die grenzenlose DUftelei kommt erst nachher) und folge, nachdem Plan und Ziel mir feststehn, dem bekannten "dunklen Drange". Es klingt ein bchhen arrogant, aber ich darf ehrlich und aufrichtig sagen: es ist ein natUrliches, unbewuBtes Machsen. Wenn nun bei diesem NaturprozeB eine sentimentale und weisheitsvolle Lise wie diese "Stine" herauskommt, so muB das einen Grund haben, denn im ganzen wird man mir lassen mUssen, daB ich wie von Natur die Kunst verstehe, meine Personen in der ihnen zustandigen Sprache reden zu lassen. Und nun spricht diese Stine im Stine-Stil statt im Lene-Stil. Warum? Ich denke mir, weil es eine angekrankelte Sentimentalwelt ist, in die sie, durch ihre Bekanntschaft mit Waldemar, hinein- versetzt wird. Und so wird die Sentimentalsprache zur Natfirlichkeitssprache, weil das Stfick Natur, das hier gegeben wird, eben eine krankliche Natur ist. Dadurch geht freilich ein Reiz verloren, und an die Stelle von Seeluft tritt Stubenluft, aber der psychologische ProzeB, Vorgang und Ton sind eigentlich richtig. Dieses Bekenntnis ladt dazu ein, die Funktion und die Gestaltung der Fontane-Figuren mit besonderer BerUcksichtigung der Frauengestalten zu untersuchen, denn diese sind es, die durch ihr Handeln und ihre Einstellung zur Melt Hoffnung auf eine positivere Entwicklung der westlichen Zivilisation geben. 14 In seinem Werk Irrungen Wirrungen hat Fontane in Lene Nimptsch eine seiner starksten Frauengestalten geschaffen. welche durch die Sicherheit ihrer Persfinlichkeit die leidvollen Konsequenzen ihres Handelns fiberwindet. Durch ihre existentielle Kraft, ohne falsche Hoffnungen, kann sie ihr Liebesglfick mit Botho genieBen, ohne sich und ihr Schicksal im Augenblick des Verzichtes bejammern zu mfissen. Sie ist absolut ehrlich mit sich selbst und macht sich fiberhaupt keine Illusionen. Diese illusionslose Ehrlichkeit macht sie liebenswert, lund neben Mathilde Mfihring ist sie eine der modernsten Frauen in Fontanes Werken. Georg Lukacs hielt Lene Nimptsch ffir die beste Reprasentantin von Fontanes Moral und Weltanschauung. Er schreibt in seinem Aufsatz "Der alte Fontane": Lene Nimptsch, die Heldin von "Irrungen Wirrungen", erhebt sich dagegen in einer schlichten, vfillig phrasenlosen, vfillig illusionslosen Weise moralisch hoch fiber alle anderen Gestalten des Romans. Da man nun einmal bei Fontane akzep- tieren muB, daB er nicht imstande ist, rebellierende Menschen zu gestalten, verkfirpert dieses plebejische Madchen das menschlich Beste, das in dieser dichterischen Melt vorhanden sein kann.3 Es liegt etwas Geheimnisvolles fiber dieser Lene-Gestalt. Von ihrem Ursprung wissen wir nichts. Sie ist die Pflegetochter von Frau Nimptsch, kein Engel, "aber proper und fleiBig un kann alles und is ffir Ordnung un ffirs Reelle" (Irrungen Wirrungen, S. 9-10). Dber der journalistisch genau beschriebenen Kleinbfirgerwelt liegt immer wieder ein Hauch von Marchen. Frau Dfirrs Haus wird als SchloB charakterisiert, weil es ein kleines Tfirmchen hat, und als fiber Lenes Herkunft gesprochen wird, sagt Frau Dfirr: "'Sie haben sie ja bloB angenommen un is nich Ihr eigen Fleisch und Blut, un vielleicht is es eine Prinzessin oder so was'" (Irrungen Wirrungen, S. 10). Ein 15 Hund namens Sultan wacht fiber diese Hinterhofidylle, fiber das "SchloB", welches nichts als ein "jammerlicher Holzkasten" ist. In diesen kleinen Kreis, zu der kranklichen Frau Nimptsch, ihrer Pflegetochter, Herrn und Frau Dfirr mit ihrem geistesschwachen Sohn, kommt nun der "Prinz" in Gestalt Baron Botho von Rienackers. Und wie es ffir Ritter— figuren fiblich ist, "rettet" er Lene aus "der Seenot"; in Nirklichkeit ist es nur ein kleiner Kahn, dessen Steuerung auBer Kontrolle geraten war. Dieser Baron ist von nun an ein haufig gesehener Gast im Dfirr- schen Haus. Fontane laBt uns nicht in Zweifel darfiber, daB Botho und Lene sich bald herzlich lieben. Aus dem Gesprach seiner Kameraden erfahren wir mehr fiber Botho: "'Rienacker, trotz seiner sechs FuB oder vielleicht auch gerade deshalb, ist schwach und bestimmbar und von einer seltenen Weichheit und Herzensgfite'" (Irrungen Wirrungen, S. 51). Diese Eigenschaften des schfinen, aber schwachen Menschen kommen auch in einem Gesprach der zwei Liebenden zur Darstellung. Lene erkennt bald den Charakter ihres Geliebten: "Du liebst mich und bist schwach. Daran ist nichts zu andern. Alle schfinen Manner sind schwach, und der Starkre beherrscht sie. .. Und der Starkre. .. ja, wer ist dieser Starkre? Nun, entwederists deine Mutter oder das Gerede der Menschen, oder die Verhaltnisse. Oder vielleicht alles drei. .." (Irrungen Wirrungen, S. 34). Solange die Liaison sich im Rahmen des "Schl'dBchens" abspielt. verl‘ciuft alles harmonisch. Sowie die AuBenwelt dazu kommt, fallt ein Schatten des Ironisch-Tragischen fiber die Geschichte. Sogar Botho erkennt, daB nur die Umstande des Isoliertseins den Zauber der Idylle bewahren kfinnen. Botho sagt, daB Frau Dfirr unter Menschen zur komischen Figur wird (Irrungen Wirrungen, S. 63). Er ahnt damit, daB die ganze Kon- stellation auBerhalb ihrer eigenen Dimension zusammenbrechen muB. 16 Auf die Dauer ist dieser kleine Kreis zu eng ffir Botho und Lene. Die Exkursion in die AuBenwelt wird geplant; der Ort ist "Hankels Ablage", die nur mit einem Schiff erreichbar ist. Vfillige Einsamkeit macht diesen Ort zum Paradies. DaB dieses Glfick von nur kurzer Dauer ist und nur in Stunden und Minuten gezahlt werden darf, weiB Lene: "War es nicht schon ein Vorzug, einen solchen Tag durchleben zu kfinnen? Und wenn auch nur einmal, ein einzig Mal" (Irrungen Wirrungen, S. 76). Aber die Wirklichkeit bricht bald herein: Bothos Kameraden wahlen "Hankels Ablage" zu ihrem Ausflugsziel mit ebenfalls nicht gesell- schaftsfahigen "Damen". Ffir diese.Damen ist der Flirt ein Spiel ohne emotionale Bindung; wer sich dabei verliebt, bricht die Regel des Spieles. Lenes und Bothos Spielregelbruch wird von den anderen bald erkannt. "'Und wie is es denn eigentlich mit Ihnen?'" fragt man sie und konstatiert ihre Reaktion: "'Jott, Kind, Sie verfarben sich ja; Sie sind woll am Ende mit hier dabei', und sie wies aufs Herz, 'und tun alles aus Liebe? Ja, Kind, denn is es schlimm, denn gibt es 'nen Kladderadatsch'" (Irrungen Wirrungen, S. 85). Aufrichtige Geffihle eines sensiblen Menschen wie Lene werden ffir die anderen zur Gefahr. Zwei der "Damen" unterhalten sich fiber Lene Nimptsch. Die eine fragt: "'wie gefallt sie dir denn?'" "'Gefallen? Gar nich. Das fehlt auch noch, daB solche mitspielen und in Mode kommenl'" (Irrungen Wirrungen, S. 85). Mit dem Einbruch der AuBenwelt verliert auch die Liebe ihren Zauber fiber Botho. Die Nirklichkeit hat die Illusion einer Melt ohne soziale Schranken zerstfirt. Bei Tagesanbruch erwachen Zweifel in Botho: "'Wieder fort. Es hilft nichts. Also Resignation. Ergebung ist fiberhaupt das Beste'" (Irrungen Wirrungen, S. 89). Sobald der Gedanke des Aufgebens aufleuchtet, bricht die 17 AuBenwelt mit ihren Forderungen herein. Ein Brief seiner Mutter beschreibt die katastrophale finanzielle Lage des Hauses Rienacker: man steht vor dem Bankrott. Nur Botho kann die Familie noch retten; eine standesgemaBe Ehe mit Kathe Sellenthin soll die Finanzen der Rienackers wieder auffrischen. Das Kalkfil beherrscht die menschlichen Beziehungen. Fontane denkt nicht sehr positiv fiber den kontemporaren Adelsstand. In einem Brief vom 14. August 1896 an Friedlaender schreibt er: Sie wissen, daB ich frfiher in Bezug auf den Adel immer von einer "unglficklichen Liebe“ gesprochen habe. Damit ist es vorbei. Diese unglfickliche Liebe hat sich in Abneigung oder wenn das zu viel gesagt ist, in auBerste MiBstimmung und VerdrieBlichkeit verkehrt. Diese Illusionslosigkeit in Bezug auf den preuBischen Adel prasentiert sich besonders stark in den zwei Schwesterromanen Irrungen Wirrungen und Stine. Botho wird zum Prototypen des schwachen Adelsgeschlechts. Solange sein Leben eine Spielerei ist, kann er die Affare mit der grfiBten Finesse absolvieren; sobald es zum Konflikt zwischen sich selbst und den Anforderungen seiner Klasse kommt, bricht er zusammen. Jetzt, wo er sich als Mensch bewahren mfiBte, wird er zur Marionette: "Mer bin ich? Durchschnittsmensch aus der sogenannten Obersphare der Gesellschaft. Und was kann ich? Ich kann ein Pferd stallmeistern, einen Kapaun tranchieren und ein Jeu machen. Das ist alles, und so hab ich denn die Wahl zwischen Kunstreiter, Oberkellner und Croupier" (Irrungen Wirrungen, S. 92). Botho ironisiert die Wirklichkeit. Auf keinen Fall ist er geneigt, aus Liebe in einen unteren Klassenstand zu treten, da ihm jegliches Talent auch nur zu einer renommierten bfirgerlichen Karriere fehlt. Lene versteht sich als Kind der Arbeiterklasse, nicht nur von Geburt, sondern aus ihrer Oberzeugung heraus. ‘Dieses Milieu bezaubert Botho mit seinem Charme. Er ist sich der menschlichen Vorzfige dieser 18 sozialen Schicht bewuBt, denn darauf grfindet seine Liebe zu Lene: "'Und dies Beste heiBt mir Einfachheit, Wahrheit, Natfirlichkeit. Das alles hat Lene; damit hat sie mirs angetan, da liegt der Zauber, aus dem mich zu lfisen mir jetzt so schwerfallt'" (Irrungen Wirrungen, S. 93). Botho ist kein Unmensch. Hatte er die Kraft, den Schritt zu tun, der jetzt unterbleibt, hatte er ihn getan: "Und war es denn", fuhr er fort, "etwas so Tfirichtes und Unmfigliches, was ich wollte? Nein. Es liegt nicht in mir, die Welt herauszufordern und ihr und ihren Vorurteilen fiffentlich den Krieg zu erklaren; ich bin durchaus gegen solche Donquichotterien" (Irrungen Wirrungen, S. 93). Ihm kommen die Zweifel an seinen eigenen Stand: "Ich hab eine Gleichgfiltigkeit gegen den Salon und einen Widerwillen gegen alles Unwahre, Geschraubte, Zurechtge— machte, Schick, Tournfire, savoir-faire - mir alles ebenso haBliche wie fremde Wfirter" (Irrungen Wirrungen, S. 93-94). wahrend dieses Selbstgespraches reitet er durch die Felder und stfiBt auf ein Steinkreuz: die letzte Ruhestatte eines Adligen. Dieser Adlige schied durch Selbstmord aus dem Leben, weil er mit seinem Stand in Konflikt geriet und liegt getrennt von der Familiengruft, auch im Tod verstoBen. Dieses literarische Bild erinnert an das traurige Schicksal des Waldemar von Haldern in Stine (siehe Text unten). Der Tote verhilft Botho, zu einem EntschluB zu kommen: "Was predigt dies Denkmal mir? Jedenfalls das eine, daB das Herkommen unser Tun bestimmt. Wer ihm gehorcht, kann zugrunde gehn, aber er geht besser zugrunde als der, der ihm widerspricht" (Irrungen Wirrungen, S. 94). Die standesbedingte Auswegslosigkeit seiner Situation liegt ihm vor Augen. Von zwei Dbeln wahlt er das kleinere. Widerstand ist das grfiBere Risiko, Ffigung das geringere. In dieser Resignation - seiner Klasse gegenfiber wie auch gegen sich selbst - stfiBt er auf die symbo- lische Vision der Arbeiterwelt: vom Pferde aus sieht er ein Walzwerk, 19 rauchende Schlote und Maschinenwerkstatte. In: Fabrikqualm symbolisiert Fontane Strebsamkeit und Bewegung. Arbeiter essen ihr Mittagessen, Frauen, die ihre sauglinge auf dem Arm halten, lachen. Botho, sich selber als Anachronismus empfindend, ist von diesem Bild naiver Aktivi- taten entzfickt. Diese Menschen kennen geordnete Zusammenhange. Sie kfimmern sich nicht um abstrakte Dinge wie die Liebe; Liebe bedeutet Unordnung der Geffihle, die in einer pragmatischen Welt keinen Platz haben. Die Ehe innerhalb seinen Klassenschranken bedeutet Ordnung ffir Botho. Sein EntschluB ist gefaBt; er wird sich in eine unvollkommene Welt einffigen. Es ist zu spat ffir jeglichen Idealismus. Ausharren, bis seine Zeit vorbei ist, das ist seine Devise. Lene weiB in ihrem Innern um das Unabwendbare ihres Schicksals. Trotz ihres Schmerzes bringt sie Verstandnis ffir die Situation ihres gesellschaftlich gebundenen Geliebten auf. Bei einem letzten Spazier- gang mit Botho kommt ihr der Gedanke des Entfliehens. Da die Umwelt ihr keinen Ausweg bietet, blickt sie in die Hfihe und spricht von einem "da oben sein wollen." Botho mtiersteht sie, da er glaubt, sie trage sich mit Selbstmordplanen. Aber da kennt er Lene schlecht: "'Ich bin nicht wie das Madchen, das an den Ziehbrunnen lief und sich hinein- stfirzte, weil ihr Liebhaber mit einer andern tanzte'" (Irrungen Wirrungen, S. 97). Lene ist keine Hebbelische "Maria Magdalena", sie flfichtet sich nicht nach "oben" oder nach "unten". Sie beharrt auf ihrem Standpunkt, der schon zu Anfang ihres Verhaltnisses mit Botho galt: in der Welt, so wie sie ist, zu bestehen, ohne auch nur einen Augenblick an Flucht zu denken. Bothos und Lenes Wege trennen sich. Botho heiratet Kathe, die einen wesenhaften Kontrast zu der ernsten und einfachen Lene prasentiert, 20 "weil sie [Kathe] die Kunst des gefalligen Nichtssagens mit einer wahren Meisterschaft fibte" (Irrungen Wirrungen, S. 117). Botho versinkt in das Sterile der typischen Konventionsehe. Fontane laBt uns darfiber nicht lange im Zweifel; Kathe und Botho sind zeugungs- unfahig. Diese Reprasentanten der preuBisch-adligen Gesellschaft sind hybride, geistig und physisch-biologisch unfruchtbar. Die Kraft "der gesellschaftlichen Elite" wird in Fontanes Romanen verbraucht in dem Versuch, ihren Stand und den Status quo zu erhalten; sie kfinnen sich nicht erneuern. In der Literatur des 18. Jahrhunderts gab es noch den kraftvollen, vom Idealismus getragenen Individualisten. Im spaten 19. Jahrhundert gibt es solches Titanentum nicht mehr. Daran kfinnen wir Fontanes negative Einstellung gegenfiber Ibsen erkennen. Dessen Frauenfiguren sind Fontane zu heroisch. Wenn man sein Zeitalter versteht, gibt es kein heroisches Gebahren mehr. Der Bfirger des 19. Jahrhunderts muB sich mit den Bedingungen des Lebens auseinandersetzen. Die starksten Frauentypen, die Fontane geschaffen hat, existieren innerhalb ihrer gegebenen Gesellschaftsordnung, befolgen deren Regeln im groBen und ganzen und sehen zu, daB aus dem "Schfildchen" keine Schuld wird und aus dem ”Tatchen" keine Tat.1+ Spat in seinem Leben schrieb Fontane seine Gedanken fiber Ibsen in einem Brief vom 22. Marz 1898 an Friedrich Stephany auf: Ibsen mag die groBere Natur, die starkere Persfinlichkeit, das fiberlegene, bahnbrechende Genie sein, dichterisch steht mir Gerhardt Hauptmann hfiher, weil er menschlicher, natfir- licher, wahrer ist. Da quatscht jetzt jeder von Ibsens Whhrheit, aber gerade die spreche ich ihm ab. Er ist ein groBer, epochemachender Kerl, aber mit seiner "Wahrheit" kann er mir gestohlen werden. In der Mehrzahl seiner Dramen ist alles unwahr. Die bewunderte Nora ist die grfiBte Quatschlise, die je von der Bfihnen herab zu einem Publikum gesprochen hat. 21 Es ist verstandlich, daB Botho zwischen Lene und Kathe Vergleiche zieht. Beim Durchschauen der alten Briefe erinnert er sich an die glficklichen Stunden mit Lene: "'Alles, was sie sagte, hatte Charakter und Tiefe des Gemfits. Arme Bildung, wie weit bleibst du dahinter zurfick'" (Irrungen Wirrungen, S. 145). Kathe reprasentiert die typische Rolle der Gesellschaftsdame ihrer Zeit. Fontane zeichnet sie mit so viel negativen Nuancen, daB sie beinahe zur Karikatur wird. "'Sie dalbert, nun ja, aber eine dalbrige junge Frau ist immer noch besser als keine'", so denkt Botho fiber seine Frau (Irrungen Wirrungen, S. 148). Kathe spielt ihre Rolle vorzfiglich, ein charmantes, nichtssagendes Wesen ohne Gedankentiefe. Botho ist in seiner traditions- und standes- gemaBen Ehe nicht glficklich. Das zeigt sich in folgenden Reflexionen: "Viel Freude; gewiB. Aber es war doch keine rechte Freude gewesen. Ein Bonbon, nicht viel mehr. Und wer kann von SfiBigkeiten leben!" (Irrungen Wirrungen, S. 149). Fontane laBt hier nur ahnen, daB sich Botho nach einer gewissen Zeit den Magen verderben wird. Doch Stand und Sitte sind ihm wichtiger als das persfinliche Glfick, denn ohne ge- sellschaftlichen Rfickhalt besteht ffir einen Menschen wie ihn die Gefahr des "Versumpfens". Diese Einstellung kommt noch einmal zum Ausdruck, als Botho die Rolle des Konfidanten fibernimmt. Bozel von Rexin vertraut sich Botho an, um bei ihm Rat zu holen. Auch er hat sich unstandesgemaB in ein Madchen der unteren Klasse verliebt. Was Bozel an seiner schwarzen Henriette liebt, namlich "Natfirlichkeit und Schlichtheit", sind dieselben Eigenschaften, welche Botho an Lene geliebt hat. Bozel spricht von der "wirklichen Liebe", welche "zehn Komtessen" aufwiegt. Auch er ist sich bewuBt, daB sich keine wirklich echten, tiefen Beziehungen in seiner Gesellschaftsklasse finden lassen. Bozel will einen Mittelkurs wahlen, 22 da ihm weder Entsagung noch der Bruch mit seiner Familie akzeptabel ist. Sein Plan besteht darin, eine Ehe ohne "Legalisierung" und “Sakramen- tierung", ohne "pastorale Heiligsprechung" zu finden. Botho rat ihm, diesen KompromiBweg nicht einzuschlagen: "'Ich warne Sie, hfiten Sie sich vor dem Halben. Was Ihnen Gewinn dfinkt, ist Bankrott. und was Ihnen Hafen scheint, ist Scheiterung'" (Irrungen Wirrungen, S. 153). Mesalliance auf Mittelkurs ist keine Lfisung, es gibt nur das Entweder- Oder. Er kann nur vfillig mit seiner Familie und seinem Stand brechen und in die "Neue Welt" auswandern, um in einer klassenlosen Gesellschaft neuen FuB zu fassen, selbst wenn er "Kellner auf einem Mississippidampfer" werden mfiBte. Ffir diesen Schritt ins Ungewisse sind weder Bozel noch Botho bereit, da beide diesen Anforderungen nicht gewachsen sind: lieber mit einer "Puppe" verheiratet sein, als wie ein AusgestoBener durch die Welt zu irren. Zu diesem Zeitpunkt ffihrt Fontane einen aus der Neuen Welt Zurfick- gekehrten in das Romangeschehen ein. Gideon Franke war vielleicht aus religifisen Grfinden ausgewandert. Er ist der ordentliche Bfirger, der um Lenes Hand anhalt. Der Ordnung halber sucht er Botho von Rienacker auf, um sich fiber das gewesene Verhaltnis zu informieren. Mit viel Respekt beschreibt Botho dem Verlobten Lenes deren Vorzfige: ". .. sie hatte sich von Jugend an daran gewfihnt, nach ihren eigenen Entschlfissen zu handeln, ohne viel Rfick- sicht auf die Menschen und jedenfalls ohne Furcht vor ihrem Urteil. . .. die Lene lfigt nicht und bisse sich eher die Zunge ab, als daB sie flunkerte. Sie hat einen doppelten Stolz, und neben dem, von ihrer Hande Arbeit leben zu wollen, hat sie noch den andern, alles grad heraus zu sagen und keine Flausen zu machen und nichts zu vergrfiBern und nichts zu verkleinern" (Irrungen Wirrungen, S. 132-133). Diese Eigenschaften Lenes sind es, die ihm, Botho, fehlen, und er ist sich dessen bewuBt. Er kann sich nicht von seiner Hande Arbeit ernahern 23 und ist von dem Urteil seiner Mitmenschen abhangig. Gideon ist in der Romanstruktur mehr Funktion als Charakter; als Mensch hat ihn Fontane zu unscharf gezeichnet. Er wird zum Vehikel, welches Lene in geordnete bfirgerliche Verhaltnisse einreihen wird. Es ist kein Zufall, daB Kathe die Heiratsanzeige von Gideon und Lene findet, wobei sie sich fiber den Namen Gideon lustig machen kann. Botho hat das letzte Wort in diesem Roman: "'Was hast du nur gegen Gideon, Kathe? Gideon ist besser als Botho'" (Irrungen Wirrungen, S. 165). Dieses ‘Werturteil hat nichts mit dem Namen zu tun. Es fungiert als ein Finger- zeig daffir, daB Fontane hier eine Gesellschaftsklasse kritisiert. In Irrungen Wirrungen so wie auch in Stine behandeln die Reprasen- tanten des Adels, Botho und Waldemar, ihre Bfirgermadchen auf eine eben- bfirtige Weise. Man kann es fast ein demokratisches Verhaltnis nennen, wahrend die Ehe mit der standesgemaBen Kathe patriarchische Zfige auf- weist. Botho behandelt seine Frau wie ein Kind, welches noch nicht reif genug ist, eigene Entschlfisse zu fassen. Zur Selbstentwicklung kann es nicht kommen, da ihr jegliche Selbstbestimmung fehlt. Die unteren Bfirgerklassen bringen dagegen die selbstbestimmende, ihren eigenen Willen durchsetzende Frau hervor, welche im Begriff ist, sich zu ihrer Emanzipation durchzukampfen. Nicht umsonst sagt Botho von Lene: "'Ja, sie hat ihren eigenen Willen, vielleicht etwas mehr als recht ist.. .'" (Irrungen Wirrungen, S. 133). Das Ende ihres Verhaltnisses mit Botho bedeutet ffir Lene keinen Bruch ihrer existentiellen Kraft. Sie lernt,mit den Gegebenheiten ihrer sozialen Realitat sich zu arrangieren. Ihre gelassene Haltung zeigt, daB sie sich damit abfindet, die geltenden gesellschaftlichen Normen nicht andern zu kfinnen. Die Wirklichkeit macht es nun einmal 24 unmfiglich, ein persfinliches Glfick zu finden. Ihr Verzicht auf die Erffillung ihrer Liebe, ihre Bereitschaft zur Resignation steht nicht als Ausdruck existentieller Schwache, sondern eher als die weiblich- intuitive Erfahrung, daB der Einzelmensch sich nicht gegen das Diktat der Gesellschaft erheben kann, ohne dabei unterzugehen. Die Erkenntnis zerstfirt diesen Frauentypus jedoch nicht. Lene fiberwindet die Nieder- lage und arrangiert sich innerhalb ihrer Wirklichkeit und hat alle Aussicht, die Einsicht aus Erfahrung einer Pittelkow (Stine) oder Frau Dfirr ffir ihr eigenes Leben zu erreichen. Diese Entwicklung zu realis- tischem Bescheiden fordert als Opfer das Ende ihrer Naivitat und der Bedeutungslosigkeit ihres Geffihls. Hinter dieser poetischen Struktur offenbart sich plfitzlich Fontanes Sozialkritik an den Strukturen der preuBischen Gesellschaft, und es zeigt sich gleichzeitig, welche groBe Bedeutung er den intuitiven Fahigkeiten seiner Frauenfiguren beimiBt, die die Misere leidend erfahren und somit die Kausalitat hinter den privaten Katastrophen aufleuchten lassen. Es ist dem Leser fiberlassen, den Schritt von der Erkenntnis der Voraussetzung des Leidens zur Er- kenntnis der Notwendigkeit der Veranderung der sozialen Struktur zu vollziehen. Die Funktion der alteren Frauen, Frau Dfirr in Irrungen Wirrungen, Pauline Pittelkow in Stine, liegt darin, aus der Distanz der Erfahrung in Liebessachen rationale vernunftsmaBige Positionen zu vertreten. Sie reprasentieren die relativ tiefere intellektuelle Einsicht. Die jungen Frauen, Stine und Lene, verkfirpern in ihren ungebrochenen Charakteren unmittelbares geffihlsmaBiges Engagement. Sie sind auf natfirliche Weise Inkorporationen der Werte, die Fontane in der unteren Gesellschaftsschicht sieht und zur Darstellung bringen will. Wfirde er ihnen darfiber hinaus 25 die den alteren Frauen gebfihrende Distanz und Einsicht auferlegen, wfirde er ihre Charaktere sprengen. Weil er aber beide Prinzipien braucht, spaltet er sie in zwei verschiedene Reprasentantinnen inner- halb der Romanwelt auf. Beide Frauentypen stehen also als Funktions- trager verschiedener individueller und gesellschaftlicher Qualitaten. Das Dreieckverhaltnis (alte Frau, junge Frau, Liebhaber) ist damit struktural notwendig zur adequaten Reprasentation der Ideen Fontanes einerseits und andererseits zur Schaffung zweier verschiedener, aber echter weiblicher Charaktere, die beide Hoffnungen und Mfiglichkeiten des Weiblichen in Fontanes Romanen innerhalb der kritisierten Gesell- schaftsordnung poetisch wahr werden lassen. Die Unterschiede zwischen Frau Dfirr und Pauline Pittelkow sollen spater in diesem Text ana- lysiert werden. Dort wird besonders die konstrastierende Funktion der Rolle der welterfahrenen und realitatsbewuBten Witwe Pittelkow mit ihrer dem Leben nicht so kraftvoll gegenfiberstehenden Schwester Stine Rehbein berficksichtigt werden. Daran soll gezeigt werden, daB die Titelheldin eine etwas zweitrangige Stellung neben der detail- lierten Darstellung der Witwe einnimmt. 26 Stine In Stine begegnen wir wieder einem Madchen der Arbeiterklasse. Wie Lene ist Stine auch selbstbewuBt, strebsam und unabhangig. Doch ihr ausgepragter Sinn ffir Tugend und Sittsamkeit laBt sie nicht so "modern" wirken wie eine Lene. Fontane war sich ihrer Mangel bewuBt. 1890, im Erscheinungsjahr dieses kleinen Romans, schrieb er ein Gedicht: Will dir unter den Puppen allen Gerade "Stine" nicht recht gefallen, Wisse, ich finde sie selbst nur soso, Aber die Witwe Pittelkow! Graf, Baron und andere Gaste, Nebenfiguren sind immer das Beste, Kartoffelkomfidie, Puppenspiel, Und der Seiten nicht allzuviel. Was auch deine Fehler sind, Finde Nachsicht, armes Kind15 Die Konzentration der Charakterzeichnung in diesem Werk liegt auf den Nebenfiguren. Stine ist zu sehr die Verkfirperung einer abstrakten Idee, eines bfirgerlich-strebsamen Madchenideals, um lebenswahr zu wirken; sie ist in ihrer kfihlen Zurfickhaltung nicht recht greifbar. Es war nie Fontanes Starke, in genauer Detailbeschreibung einen Menschen vor unseren Augen entstehen zu lassen. Physische Details spart er aus. Durch motiviertes Handeln, durch Einsicht in Denken und Ffihlen der Figuren, welches in meisterhaften Dialogen zum Vorschein kommt, ffihrt er uns seine Charaktere vor; diese Unmittelbarkeit der Darstellung betrifft den Leser tiefer als bloBe epische Personenbeschreibung. Im Stine-Roman ist wieder Berlin der Schauplatz der Handlung. Anstatt im westlichen Stadtrand Berlins, Wilmersdorf, wo sich Irrungen 27 Wirrungen abspielte, befinden wir unsiniNordwesten Berlins, in der InvalidenstraBe. Fontane prasentiert am Anfang des Romans nicht dessen Titel-Heldin, sondern deren reife Gegenspielerin mit leicht dubiosem Lebenswandel. Eine "schfine, schwarze Frauensperson mit einem koketten und wohlgepflegten Wellenscheitel" putzt mit groBer Emsigkeit die Fensterscheiben ihrer Wohnung (Stine, S. 169). Die Nachbarn regen sich fiber solche demonstrative Arbeitswut bei provokativer Kfirperhaltung auf: "'Is doch wahrhaftig, als ob alles Mannsvolk nach ihr raufkucken soll; 'ne Sfind und 'ne Schand'" (Stine, S. 169). Das Objekt dieser Kritik ist die Witwe Pauline Pittelkow. AuBer dem schwarzen Haar, welches einen gleich an die schwarze Jette in Irrungen Wirrungen denken laBt, hat Pauline eine "enrhfimierte Altstimme, wie sie den unteren Volksklassen unserer Hauptstadt nicht gerade zum Vorteil eigen ist" (Stine, S. 170). Viel mehr werden wir im Laufe der Handlung fiber Paulines physische Eigenschaften nicht erfahren. DaB diese Erzahlung wieder problematische Liebesverhaltnisse zum Thema hat, beziehungsweise deren zwei, die sich in ihren Wertkategorien deutlich unterscheiden, sagt Fontane sogleich im besten Milieu-Berlinerisch der Pauline: "'Olga, der Olle kommt heute wieder. Immer, wenns nich paBt, is er da'" (Stine, S. 171). Dieses anrfichige Verhaltnis wird weder vor den Nachbarn ver- heimlicht, noch vor den eigenen Kindern vertuscht, sondern vor den Augen der Uffentlichkeit ausgetragen. Die Pittelkow hat eine Schwester namens Stine Rehbein. Beide Schwestern wohnen in separaten Wohnungen bei der Familie Polzin zur Miete. Beide sehen einander etwas ahnlich, sind aber gegensatzliche Typen. Die Pittelkow ist "das Bild einer sfidlichen Schfinheit“, die jfingere Schwester dagegen hat "zartere Gesundheit" und "flachsgelbes Haar, mit leicht gerfiteten, doch freundlichen Augen" (Stine, S. 175). 28 Pauline verkfirpert einen gesunden, selbstsicheren, extrovertierten Charakter. Stine ist dagegen der eigenwillige, introvertierte Typ. Pauline berichtet ihrer Schwester, daB er heute kommt, doch nicht allein, und hier wird ihre Erregung verstandlich, denn er bringt Gaste mit: Papageno und dessen Neffen. Diese Schlfisselnamen aus Mozarts Zauberfiete werden gebraucht, um die Anonymitat der zweifel- haften Gaste zu wahren. Denn er ist ein Baron, der die kleine Familie finanziell unterstfitzt, oder gar ffir ihren Unterhalt sorgt. Stine lehnt die anrfichige Liaison ab, wird aber von ihrer Schwester in kfihlem Kalkfil belehrt: "'Bedenke doch, daB er ffir alles sorgt'" (Stine, S. 175). Sie versucht ihre Schwester zu beruhigen, welche sich fiber den kurzen Ansagetermin und den zusatzlichen Gastebesuch aufregt. Pauline ist gebunden. Wirtschaftliche Nfite zwingen sie in dieses degradierende Verhaltnis, sie wird ausgehalten. Nirgends finden wir einen moralischen Ton Fontanes, im Gegenteil: der Dichter offenbart nur die soziologische Nfitigung zu dieser Mesalliance. Pauline sagt: "Denn wovon soll man denn am Ende leben?“ "Von Arbeit." "Ach, Jott, Arbeit. Bist du jung,Stine. GewiB, Arbeiten is gut, un wenn ich mir so die Armel aufkremple, is mir eigentlich immer am wohlsten. Aber, du weiBt ja, denn is man mal krank un elend, un Olga muB in die Schule. Wo soll mans denn hernehmen? Ach, das is ein langes Kapitel, Stine" (Stine, S. 176-177). Dieses kfihle Analysieren der soziologischen Gebundenheit des Menschen, ffir den emotional-romantische Geffihle einen Luxus bedeuten, den er sich nicht erlauben kann, brachte das kontemporare Publikum Fontanes in Aufruhr. "Schweinegeschichten" nannte es diese zwei Milieuge- schichten.6 Pauline ist nicht die einzige, die die Kunst des Oberlebens prak- tiziert. Eine Freundin von ihr, die "Schauspielerin" Wanda Grfitzmacher, 29 hat dieses Talent auch: . und wenn ihr bei Soupers mit Bourgeoiswitwern, einer ihr besonders sympathischen Gesellschaftsklasse, die Speisekarte gereicht wurde, so zeigte sie mit einem ihr kleidenden und seine Wirkung nie verfehlenden Ernst auf das rasch als Bestes und Teuerstes Erkannte, jedes- mal feierlich hinzusetzend: ”Daffir laB ich mein Leben" (Stine, S. 179). "'Immer tapfer in die Bresche', war einer ihrer Lieblingssatze. Sie war fiberhaupt ffir Leben und Lebenlassen.. ." (Stine, S. 179). Zwischen diesen mit Lebenserfahrungen angereicherten zwei Damen steht Stine Rehbein in volliger Unschuld da. Nun soll an diesem Tag Stine als extra Dame ffir den Neffen des Barons fungieren. Wer bei diesen Soirees das Regiment ffihrt, bleibt kein Geheimnis: es ist der Graf, der sich hinter dem Zauberflfitennamen Sarastro verbirgt und die anderen standig spfiren laBt, daB er die Rechnungen bezahlt. Er ist nicht Gast, sondern er befiehlt. Er laBt das Essen auftragen, wenn er hungrig ist. Er wirft Blumen, die seiner Nase nicht angenehm sind, ohne weiteres aus dem Fenster. Seiner Freundin Pauline bringt er nicht viel Sensi- tivitat entgegen, als er seiner "Mohrenkfinigin - Kfinigin der Nacht" zutoastet. Psychologisch gut gezeichnet ist die kokette Rivalitat der zwei Freundinnen, die um die Gunst der Manner buhlen. Wandas und Paulines Liebesstrategie besteht aus einer Mischung von Draufgangertum und geziertem Gehabe, bei denen sie ihre Abscheu verbergen. Daraus entsteht eine dramatische Spannung, die die poetische Darstellung der Ereignisse des Abends bereichert und ihren Hauptfiguren scharfere Konturen verleiht. Dieses seichte Feuerwerk laBt Stine, die nicht in dieses Milieu paBt, kalt. Waldemar, der junge Neffe des Grafen, versteht ihre Zurfickhaltung, und zwischen den zwei sensiblen Menschen spinnt sich eine seelische Harmonie an. Am Ende des Abends besprechen die zwei Schwestern die Ereignisse. Stine mfichte etwas fiber die Besucher erfahren. 30 Pittelkow nennt den alten Grafen "ein Ekel", den Baron "einen Dumm- bart", den jungen Grafen "ein armes, krankes Huhn" (Stine, S. 198). Pittelkow hat keine Illusionen fiber den Adel. Das "arme, kranke Huhn" erscheint am nachsten Tag als hfichst unerwarteter Gast; er kommt, um seine Bekanntschaft mit Stine aufzu- frischen und ihr seine finanzielle Hilfe anzubieten, ohne dieselbe Gegenleistung, die sein Onkel bei Pauline kassiert, zu fordern. Zu seiner grfiBten Verwunderung lehnt Stine sein ritterliches Angebot ab. Sie ist glficklich und braucht keine Hilfe. Es kommt das Gesprach auf Pauline und ihr Verhaltnis zu dem Grafen. Stine zeigt, daB sie keine moralischen Einwande gegen ein derartiges Verhaltnis hat und die Um- stande einsieht, die einen Menschen in eine solche Lage kommen lassen: "Ja, das ist schwer zu sagen; aber es ist so and kann auch kaum anders sein. Denn die, die Not leiden, wollen vor allem aus ihrer Not und ihrem Elend heraus und sinnen und simulieren bloB, wie das zu machen sei. Brav sein und sich rechtschaffen halten, das ist alles sehr gut und schon, aber doch eigentlich nur was Feines ffir die Vor- nehmen und Reichen, und wer arm ist und das Feine mitmachen will, fiber den ziehen sie blob her (und die gestern noch die Strengsten waren, am meisten) und reden und spotten, daB man was Apartes sein wolle" (Stine, S. 203). Sittlichkeit und Moral sind ffir die Armen ein Luxus und nur ffir die Besitzenden realisierbar. Stine erklart dem jungen Grafen, daB sogar die Mehrzahl ihrer Nachbarn die Schwester nicht verdammen wfirde: "'Die arme Frau, so sagen sie, sie hatts lieber anders. Aber sie muB‘" (Stine, S. 204). Diese moralische Toleranz der sozialen Unterschicht scheint Fontane als ein Wunschbild vorzuschweben, das er in seiner eigenen sozialen Umgebung vergebens sucht. Denn Fontanes Publikum in der wirklichen Welt zeigte keinerlei Offenherzigkeit gegenfiber einer Abwandlung gangiger Moral, welche das Produkt finanzieller Gebundenheit und sozialer Determination ist. Pauline ist kein passiver Typ. kein 31 Opfer ihres Milieus, wie wir ihn oft in der Literatur des Naturalismus finden. Pauline hat ihre Schfinheit als Waffe gegen ihre Unterdrficker eingesetzt; sie hat "eine sie bestandig qualende Lust, die Manner in Verwunderung zu setzen, bloB um sie hinterher auszulachen" (Stine, S. 204-205). Sie versucht durch Witz und psychologische Oberlegenheit, ihre soziale Gebundenheit ertraglich zu machen und trotz ihrer Umwelt zu fiberleben. Sogar der Graf ffirchtet sich vor ihren temperamentvollen Ausbrfichen. Waldemar ffihlt sich wohl, denn seine Gesprache mit Stine sind offen und ehrlich, ohne falschen Dfinkel. Er, der nur die starre Sittsamkeit seiner Standeswelt kennt, ffihlt sich zum ersten Male in seinem Leben von gesellschaftlichen Schranken befreit. Er, der "Aus-dem-Sattel- Geschossene", dem gegenfiber die Natur sich nicht entscheiden konnte. ob sie ihn leben oder sterben lassen sollte, findet eine seelische Gemeiné schaft, die sich ohne BewuBtsein von Standesgrenzen entfaltet. Es ist keine physische Attraktion, welche die beiden anzieht (ganz anders war das Verhaltnis zwischen Botho und Lene), sondern eine platonische Gemeinschaft, die auBerhalb und fiberhalb der sexuellen Polaritat steht. Stine weiB den Grund von Waldemars Anhanglichkeit ihr gegenfiber: ".. . dann hat er Kameraden und Vorgesetzte gehabt und hat gehfirt, wie seine Kameraden und seine Vorgesetzten Sprechen; aber wie Menschen sprechen, das hat er nicht gehfirt, das weiB er nicht recht" (Stine, S. 212). Auch in dieser Charakterkonstellation ist der junge Aristokrat schwach und haltlos. In beiden Romanen, Irrungen Wirrungen und Stine, kritisieren die starken Frauentypen ihre Kontrahenten. Lene weiB um die Schwache Bothos. In Stine potenziert Fontane das zwischenmensch- liche Krafteverhaltnis durch die Probleme und Differenzen, die die beiden Schwestern entzweien und in einen persfinlichen Gegensatz zwingen. 32 Pauline ist die starkere Persfinlichkeit der beiden Schwestern und besitzt die rational fiberlegenen Argumente und sozial wirksameren Verhaltens- weisen. Fontane reduziert in Pauline seine gesellschaftlich- moralischen Ideen auf einen menschlichen Torso, der aber genau mit seiner reduzierten Menschlichkeit optimal ausgerfistet ist, in den er- barmlichen sozialen Gegebenheiten besser zu fiberleben. Pauline kon- statiert: "'Un mit dem jungen Grafen is nich viel los. Er is man schwachlich, un die Schwachlichen sind immer so un richten mehr Schaden an als die Dollen'" (Stine, S. 213). Pauline, wegen ihrer vielen Liebschaften, hatte die "Sache mit dem Herz" aus dem Spiel gelassen. Emotionale Bindungen kann sie sich nicht leisten. Diese Lebenserfahrung versucht sie auch ihrer Schwester mitzuteilen: "'Aber wenns hier sitzt', und sie wies aufs Herz, 'dann wird es was, dann wird es eklig'" (Stine, S. 213). Waldemar mochte mit der Ehrlichkeit des aufrichtig Liebenden seine Beziehung zu Stine legalisieren und sich an die lebenskraftigere Frau anlehnen. Ffir dieses Unternehmen benfitigt er die Hilfe des Baron Papageno; er will ihn zum Ffirsprecher bei seinem Onkel gewinnen. Papa- geno ist sich in der Rolle des Ffirsprechers nicht so sicher, da er nicht voraussagen kann, wie der Graf Waldemars Absichten aufnehmen wird. Er kann sich bei der Prognose von dessen mfiglicher Reaktion nur auf eine Erfahrung stfitzen: ein junger Adlige mit Namen Schwilow hat sich mit einer jungen Tanzerin verlobt; alle Klubmitglieder sind zu- tiefst schockiert. Nur Graf Haldern schlieBt sich diesem Protest nicht an. Er rationalisiert seine Einstellung folgendermaBen: "'.. . aber das sag ich Ihnen, diese Balletteuse bringt die ganze Sippe wieder auf die Beine, der ganze Stammbaum, der gerade deshalb ffir uns und die Menschheit so dfirr ist, weil er ffir sich selbst so wunderbar grfint und blfiht, kriegt wieder ein andres Ansehn.. .. Glauben Sie mir, Baron, ich 33 kenne Familien und Familiengeschichten, und, mein Wort zum Pfande, wo das alte Blut nicht aufgefrischt wird, da kann sich die ganze Sippe begraben lassen. Und behufs Auffrischung gibt es nur zwei legitime Mittel: Illegitimitaten oder Mesalliancen. Und, sittenstrenger Mann, der ich bin, bin ich natfirlich ffir Mesalliancen'" (Stine, S. 221). Diese theoretische Exkurs flfiBt Waldemar Hoffnung ein. In der Praxis ist die Blutauffrischung einer anderen Sippe zwar ein erfolgreicher Unterhaltungsstoff. Geht es aber um die Belange der eigenen Familie, dann wird es bitterer Ernst: "'.. . je freier in der Theorie, desto befangener in der Praxis, desto enger und angstlicher in der Anwendung auf das eigne Ich'" (Stine, S. 222). Der Baron schlieBt seine Erinnerung mit der Mitteilung, daB am Ende die Gesellschaft sich fiber die Schwilow-Mesalliance wieder beruhigt hatte: "'Jaja, Waldemar, Erfolg und Mut. Oder beginnen wir mit dem Mut. Am Mute hangt der Erfolg'" (Stine, S. 224). Waldemar besitzt den Mut, sich die standesgemaBe Erlaubnis zu seiner unstandesgemaBen Ehe zu holen; es fehlt ihm aber die Courage, sich fiber die Grenzen der Konvention hinwegzusetzen und ohne deren Segen zu handeln. Waldemar hatte nichts zu verlieren, seine physische Gesundheit ist angeschlagen, so daB Zweifel aufkommen, ob ein Mann wie er fiberhaupt fiberleben kann: "'Ein Mann wie Du heiratet nicht', hatte sein Onkel schon frfiher bemerkt" (Stine, S. 229). Und charakterlich ist er in typischer Weise schwach. Waldemars Vorahnungen erweisen sich als berechtigt. Graf Haldern ist nicht gewillt, seinen Familiennamen mit einer wascherin zu teilen. Der einzige Ausweg ffir Waldemar ist, sein Glfick mit Stine in der Neuen Welt zu suchen. Der fragile Geliebte will das wagen, woffir Botho der Mut und die Oberzeugung fehlten. Graf Haldern erkennt das Absurde dieses Vorhabens, und als Zyniker, derer nun einmal ist, versucht er Waldemar, die Gedanken des Auswanderns auf sarkastische Weise auszutreiben. 34 Er halt ihm vor, daB ihm die Rolle eines Hinterwaldlers, Cowboys oder sogar Kellners auf einem Mississippidampfer nicht passen wfirde.7 Die Wucht von Graf Halderns ganzer Ablehnung kommt noch einmal zum Ausdruck in der verletzenden Bemerkung: "'.. . was Stine von Amerika braucht, ist eine Singersche Nahmaschine'" (Stine, S. 232). Sogar der Diener im Hause Haldern, der das ganze Vorkommnis, an der Tfir lauschend, mitbekommen hat, verhalt sich negativ zu den Heiratsplanen: "War er doch lange genug im Haldernschen Dienst, um fiber Mesalliancen noch strenger zu denken als sein Herr" (Stine, S. 234). Fontanes ironische Randbemerkungen geben der an sich tragischen Konstellation eine komische Farbung. Der Onkel ist der typische Vertreter der Aristokratie: kinderlos, nur ffir sich und sein Vergnfigen lebend, empfindet er seines Neffen Unterfangen als einen Schlag gegen sich selbst und seine Welt. Er gerat in Rage, nennt das Ganze eine "Encanaillierung“, und ffirchtet sich vor dem Skandal und dem Ridikfil seiner Klubgenossen. Seine Wut richtet sich nun gegen das ganze Haus Pittelkow: "'Undankbare Kreatur. Aus dem Kehricht hab ich sie aufgelesen, und als Lohn ffir meine Guttat zahlt sie mir in dieser Mfinze'" (Stine, S. 235). Er muB sich mit Pauline auseinandersetzen. Unangemeldet eilt er ihr ins Haus. Die Oberraschte hat nur noch Zeit, "'Jott, .. . nu schon bei Dagel'” auszu- stoBen (Stine, S. 236), denn der Graf kfimmert sich in seinem Zorn nicht mehr um den guten Ton. Er versteht Pauline und ihr Haus als seinen Besitz. Seinem aggressiven Eindringen folgt eine gleichermaBen aggres- sive Anschuldigung gegen Pauline, mit ihrer Schwester unter einer Decke zu stecken und sich mit Stine in das Haus Haldern einschleichen zu wollen. Diesen Ausbruch pariert Pauline im vollen BewuBtsein ihrer ganzen weiblichen Oberlegenheit, mit der Bemerkung, daB dies ein groBes 35 Unglfick ffir Stine sei. Es erschfittert den Grafen, Einheirat in den Adel als Unglfick deklariert zu hfiren. wahrend die folgende Unterhaltung vom Grafen her mit der Anrede "Du" geffihrt wird, bleibt Pauline beim angemessenen "Sie". Sie macht dem Grafen klar, daB der schwachliche Waldemar kein groBes Glfick ffir Stine bedeuten konnte. Die Disputierenden erkennen daraufhin ihr gemein- sames Interesse und beschlieBen, mit vereinten Kraften aber getrennten Zielen, Stine von der Heirat abzuhalten. Als Pauline von den Amerika- planen h6rt, ist sie vfillig entgeistert: "'.. . nach Amerika! Du mein Gott, was will er da? Da mfissen sie scharf ran un bei sieben Stunden in Stichsonne, da fallt er um'" (Stine, S. 240). Was ffir Waldemar eine Utopie bedeutet, ist ffir Pauline harsche Wirklichkeit. Waldemar und Botho haben nicht das Zeug zum Auswandern, aber von beiden ist nur Botho sich dessen bewuBt. Sie brauchen die Stfitze der preuBischen Gesellschaft, dessen Produkt sie sind, um fiberhaupt exis- tieren zu kfinnen. Die Aristokratie verlangert ihre Existenzberechtigung mit kfinstlichen Mitteln. In der Metapher der abgestorbenen Parkbaume, unter denen Waldemar seine Abschiedsgedanken an die Welt komponiert, reprasentiert Fontane die Unfruchtbarkeit der obersten Gesellschafts- schicht. Pauline hegt die Abneigung des Gesunden gegenfiber dem Kranken. Sie ist darin nicht allein, denn ihre Schwester reagiert genau so, als der junge Graf ihr seine Eheplane und Auswanderungstraume mitteilt: "'Aber ich kame mir albern und kindisch vor, wenn ich die Grafin Haldern spielen wollte'" (Stine, S. 244). Trotz ihrer Liebe zu Waldemar, beantwortet Stine seinen Antrag mit einem Nein. Mit diesem Nein verliert Waldemar seine Existenzgrundlage. In einem Abschiedsbrief an seinen Onkel kommt dies zum Ausdruck: 36 Was fiber mich entschied, war, wie Du bei Eintreffen dieser Zeilen vielleicht schon wissen, jedenfalls aber sehr bald erfahren wirst, der Widerstand von ganz anderer und sehr unerwarteter Seite her (Stine, S. 251). Zum Selbstmord stehen Waldemar zwei Mittel zu Verffigung: ein Revol- ver oder Schlafpulver, das er anscheinend schon wahrend seiner Invaliden- zeit gesammelt hatte. Das erweckt den Eindruck, daB ihm der Gedanke an Selbstmord nicht ganz fremd war. Vor die Alternative der Mittel zur Selbstzerstfirung gestellt, wahlt er das sanftere Schlafpulver. Ffir seine gesellschaftliche Klasse ware wohl der Revolver das ehrenvollere Mittel gewesen. Gift galt als nicht mannlich, nicht preuBisch-adlig. W'a'hrend der Darstellung der Beerdigungszeremoniegibt Fontane noch einen letzten, negativen Eindruck von dem Adel. Waldemars Stiefmutter, die wegen des "Affronts" nur erzwungene Trauer zur Schau getragen hat, und Waldemars jfingerer Halbbruder Konstantin, "dem der altere Bruder, um das mindeste zu sagen, in nicht unerwfinschter Weise Platz gemacht hatte" (Stine, S. 256), beleuchten exemplarisch die Dekadenz einer ganzen Klasse. Fontane kritisiert den Adel mit schneidender Ironie. Aber wir suchen auch bei den Bildern der Bfirgerlichen vergebens nach einem Hoffnungsschimmer: der kleine Roman endet mit der Schadenfreude der Wohnungsvermieterin. Herr Polzin erfiffnet einen Dialog mit seiner Frau beim Krawattenbinden durch die Frage, ob denn Stine heil wieder zurfick sei. Seine Frau antwortet ihm: "'Heil? Was heiBt heil? Die wird nich wieder.‘ 'Is eigentlich schade drum'", bedauert er, worauf sie antwortet: "'I wo. Gar nich. .. Das kommt davon'" (Stine, S. 259). Was geschieht am Ende nun eigentlich mit Stine? Bei Lene Nimptsch haben wir wenigstens das Geffihl, daB sie ihr Leben meistern wird, bei Stine sind wir dessen nicht so sicher. Zerbricht sie an den Vorur- teilen der menschlichen Gesellschaft? Oder lassen die Konsequenzen 37 ihres Neinsagens sie nicht zur Ruhe kommen? wahrend Lenes Handeln durchaus glaubwfirdig ist, verbleibt Stine im Dubiosen. Sie steht exis- tenziell und kfinstlerisch-formal zu sehr im Schatten ihrer gesfinderen Schwester. Man traut ihr nicht ganz zu, daB sie zu selbstandigem Handeln fahig ist. Sie flfichtet sich zu oft in die schfitzenden Anstands- begriffe ihres Kleinbfirgertums. Ihr Lebensmut scheint nicht auszureichen, um sich zu echtem Individualismus durchzukampfen. Waldemar ist schon genetisch nicht fiberlebensfahig und braucht eine starke Persfinlichkeit, von der er Lebenskraft schfipfen konnte. Auch in ihrer Ablehnung jeglicher physischen Beziehung bleibt Stine innerhalb der Grenzen ihres engen moralischen Milieus, im Gegensatz zu ihrer Schwester, welche dem kranken Geffihlsmenschen gegenfiber ein gesunder Instinktmensch ist. Die Resignation Stines und Lenes wachst aus dem Wissen um die Schwache ihrer Liebhaber, welche nicht imstande sfiui,die Konsequenzen ihres Tuns auf sich zu nehmen. Die Problemstellung Fontanes transzen- diert die Standesschranken und die auBerliche Trennung der Charaktere. Dahinter verlauft eine tiefere menschliche Problematik und die Frage nach persfinlichem Glfick. Keiner der Romangestalten ist, aus unserer Auffassung heraus gesehen, glficklich. Selbst Fontanes beste Gestalten wie Pauline Pittelkow und Frau Dfirr sind zu sehr in den Existenzkampf verwickelt, um ffir sich selbst diese Frage zu stellen. Die Manner haben nicht die nfitige Kraft oder die Individualitat, ffir ein persfinliches Lebensglfick zu kampfen; hatten sie diese, ware ein Auftrotzen gegen die Gesellschaft die not- wendige Konsequenz gewesen. Dieses Thema ware jedoch ffir Fontane als Stoff zu sentimental und nicht lebenswahr genug gewesen. Ihm selbst waren innere emotionale Tumulte scheinbar fremd. In einem Brief vom 38 30. August 1895 an seine Tochter Mete spricht er davon: Das Leben, Gott sei Dank, ist kein Tummelplatz groBer Geffihle, sondern eine Alltagswohnstube, drin das soge- nannte Glfick davon abhangt ob man friert oder warm sitzt ob der Ofen raucht oder guten Zug hat. Liebe ist gut, aber sie laBt sich nach Minuten berechnen, alles andere hat lange Stunden. Diese Aussage hatte Pauline Pittelkow tun konnen. In der Skala der Frauentypen, die Fontane in seinen Berliner Romanen kreiert, steht Pauline Pittelkow mit ihren Lebenserfahrungen und ihrem Zynismus - wie zu einem gewissen Grade, ohne die gleiche Brillianz, Frau Dfirr in Irrungen Wirrungen - optimal als Symbolfigur der nfichtern-realistischen Lebensauffassung des Dichters selbst. Das, woran man glauben und hoffen konnte. gilt nicht mehr. Der Adel hat die ihm angestammte Rolle als die ffihrende Schicht verloren und ist dabei, der nutzloseste Teil der Gesellschaft zu werden. Die unterste Volksschicht, in ihrer sozialen und fikonomischen Isoliertheit, leidet unter den oppressiven Zustanden und der Hoffnungslosigkeit ihres Daseins. Es ist eigenartig und ffir Kunst und Kfinstler aussagetrachtig, daB Fontane eine Frauenfigur und nicht einen mannlichen Reprasentanten der preuBischen Gesellschafts- strukturen als Identifikationsfigur schafft. Fontanes Leserschaft konzentrierte sich damals hauptsachlich auf die Moralfrage in diesen zwei Romanen. Ein Brief Fontanes vom 1. August 1894 an Georg Friedlaender spricht von dieser Einstellung des Publikums: . meine Berliner Romane, so wahr und zeitbildlich sie seien, seien mehr oder weniger unerquicklich, weil die darin geschilderten Personen und Zustande mehr oder weniger haBZich seien. Ich halte dies alles ffir grundfalsch; .. . Rienacker und Lene mfigen dem einen oder andern nicht ge- fallen, aber sie sind nicht "haBlich", ganz im Gegenteil, ich glaube sie sind anmuthend, herzgewinnend. So milde reagierte Fontane nicht immer auf die Ablehnung durch seine Kritiker. In einem Breif vom 2. Oktober 1888 an seine Frau revanchierte 39 er sich mit der Bemerkung: "Und nun denke Dir KayBler dabei, der in der verloddertsten Maitressenwirthschaft steckte und vielleicht noch nicht draus 'raus ist." Denjenigen seiner Freunde, die in dem Tumult zu ihm stehen, spricht er seinen Dank aus. Paul Schlenther erhalt einen solchen Brief Fontanes, datiert vom 22. Juni 1888: Sie aber seien nochmals schfinstens bedankt ffir Ihr treues Zu-mir-Stehn und - ich bitte das sagen zu dfirfen - beglfick- wfinscht ffir Ihr freies Drfiberstehn. Denn daB der alte so- genannte Sittlichkeitsstandpunkt ganz damlich, ganz antiquiert und vor allem ganz lfignerisch ist, dds will ich wie Mortimer auf die Hostie beschwfiren. Um der Empfirung aus dem Weg zu gehen, hatte Fontane seine Romane bei seinem Sohn Friedrich verlegen kfinnen. Er tat dies aber nicht mit der folgenden Begrfindung (aus einem Brief vom 16. August 1888): Wenn Du meine "Stine" verlegst, so heiBt es: "Der arme Kerl, der Fontane. Frfiher war er bei Decker, Hertz, Grote, dann kam er an Friedrich und Steffens, und jetzt, nachdem mehrere Redaktionen seine Schweine-Novelle [Stine] zurfick- gewiesen haben, ist er gezwungen, das Zeug bei seinem Sohn herauszugeben, einem Buchhandler-Commis, der sich auf die Weise sonderbar introducirt." Auch mit seinem Sohn Theodor besprach er in einem Brief vom 8. September 1887 seine eigene Einstellung zu der Moralfrage in Irrungen Wirrungen und der fragwfirdigen Reaktion seiner Leserschaft: Auch darin hast Du recht, daB nicht alle Welt, wenigstens nicht nach auBen hin, ebenso nachsichtig fiber Lene denken wird wie ich, aber so gern ich dies zugebe, so gewiB ist es mir auch, daB in diesem offnen Bekennen einer bestimmten Stellung zu diesen Fragen ein Stfickchen Wert und ein Stfick- chen Bedeutung des Buches liegt. Wir stecken ja bis fiber die 0hren in allerhand konventioneller Lfige und sollten uns schamen fiber die Heuchelei, die wir treiben, fiber das falsche Spiel, das wir spielen. Gibt es denn, auBer ein paar Nach- mittagspredigern, in deren Seelen ich auch nicht hineinkucken mag, gibt es denn auBer ein paar solchen fragwfirdigen Aus- nahmen noch irgendeinen gebildeten und herzensanstandigen Menschen, der sich fiber eine Schneidermamsell mit einem freien Liebesverhaltnis wirklich moralisch entrfistet? Ibh kenne keinen und setze hinzu, Gott sei Dank, daB ich keinen kenne. Jedenfalls wfirde ich ihm aus dem Wege gehn und mich vor ihm als vor einem gefahrlichen Menschen hfiten. Fontane hatte seine Mitmenschen fiberschatzt. II. EHE Cecile Wurde im ersten Kapitel dieser Arbeit die Liebe zwischen Repra- sentanten verschiedener sozialer Schichten als Hauptthema erfirtert, so befaBt sich dieses Kapitel mit der sanktionierten Ehe innerhalb dreier verschiedener sozialer Schichten, in deren Darstellung interessanter- weise das Thema Liebe in der Ehe fiberhaupt nicht in Erwagung gebracht wird. In dem Roman Cecile gibt uns Fontane einen Einblick in das Seelen- leben einer Frau aus einer verarmten Adelsfamilie, deren Konflikte und Frustrationen hauptsachlich durch ihre Ehe mit einem Mitglied der oberen preuBischen Gesellschaftsschicht hervorgerufen werden. Der Adel ist in allen entscheidenden Stellen frei von fremden sozialen Elementen dargestellt. Es gibt hier keine Randfiguren aus den unteren Schichten, keine bfirgerlichen Madchen, die Aufrichtigkeit und Wahrheit reprasen- A tieren und auf sozialkritische Probleme aufmerksam machen kfinnten. Auf sehr trockene Weise faBt Fontane selbst den Cécile-Stoff zu- sammen; in einem Brief vom 25. April 1885 an Adolf Glaser schreibt er: Ein forscher Kerl, 25, Mann von Welt, liebt und verehrt - nein, verehrt ist zu viel - liebt und umkurt eine schfine junge Frau, kranklich, pikant. Eines schfinen Tages ent- puppt sie sich als reponierte Ffirstengeliebte. Sofort veranderter Ton, Zudringlichkeiten mit den Allfiren des guten Rechts, Conflikte; tragischer Ausgang. Dies klingt wie die Inhaltsangaben eines gewfihnlichen Unterhaltungsromans aus dem 19. Jahrhundert - unwfirdig eines Theodor Fontane. Seine 4O 41 eigentlichen Interesse an diesem Stoff wird in einem Brief vom 10. Oktober 1895 an Colmar Grfinhagen angedeutet: Der natfirliche Mensch will leben, will weder fromm noch keusch noch sittlich sein, lauter Kunstprodukte von einem gewissen, aber immer zweifelhaft bleibenden Wert, weil es an Echtheit und Natfirlichkeit fehlt. Dies Natfirliche hat es mir seit lange angetan, ich lege nur darauf Gewicht, ffihle mich nur dadurch angezogen und dies ist wohl der Grund, warum meine Frauengestalten alle einen Knacks weghaben. Gerade dadurch sind sie mir lieb, ich verliebe mich in sie, nicht um ihrer Tugend, sondern um ihrer Menschlichkeiten d.h. um ihrer Schwachen und Sfinden willen. Sehr viel gilt mir auch die Ehrlichkeit, der man bei den Magdalenen mehr begegnet als bei den Genoveven. Dies alles, um Cécile und Effi ein wenig zu erklaren. Diese Schwachen und Sfinden mfissen naher erlautert werden. Ist es eine Schuld, die das Individuum durch eigenes Verhalten hervorruft? Oder versfindigt sich die Gesellschaft an einem Menschen, der zu passivem Verhalten gezwungen ist und nicht anders handeln kann? Fontane selbst drfickt sich etwas praziser aus in einem frfiheren Brief vom 2. Juni 1887 an seinen Freund Paul Schlenther: Cécile ist doch mehr als eine Alltagsgeschichte, die liebe- voll und mit einem gewissen Aufwand von Kunst erzahlt ist. Wenigstens will die Geschichte noch etwas mehr sein, sie setzt sich erstens vor, einen Charakter zu zeichnen, der soweit meine Novellenkenntnis reicht (freilich nicht sehr weit) noch nicht gezeichnet ist, und will zweitens den Satz illustrieren, "wer mal 'drinsitzt', gleichviel mit oder ohne Schuld, kommt nicht wieder heraus". Also etwas wie Tendenz. Die relativ seltenen Untersuchungen dieses Romans stimmen, haupt- sachlich in der jfingsten Gegenwart, mit der Tendenzhaftigkeit, von der Fontane selbst spricht, fiberein. "Es ist nicht zu bezweifeln, daB Fontane Céciles Schritt in die Schuld als ein schuldloses Schuldigwerden verstanden sehen will."1 Dieses sollte genfigen, mit dem Anlegen dieses Romans, ohne moralische Vorurteile, unter besonderer Berficksichtigung seiner Titelheldin, der Frauengestalt Cécile, zu beginnen. 42 Die erste Halfte des Romans spielt in Thale, einer Sommerfrische im Harz, einer Gegend, die Fontane gut kannte, da er selbst dort seine Ferien zu verbringen pflegte. Das erste Mal begegnen wir Cécile auf der Reise nach Thale; geffihrt von einem Herrn, “ein starker Ffinfziger", der sie sehr vorsichtig behandelt und "wie man eine Rekonvaleszentin ffihrt."2 Von ihrem AuBeren erfahren wir vorerst sehr wenig, nur den "Mattigkeitsausdruck ihrer Zfige" (Cecile, S. 9). Sie muB eine auBer- gewfihnlich schfine Frau sein, denn der Ausdruck "schfine Frau" wiederholt sich als Leitmotiv, durch das Cécile wiederzuerkennen ist. Ihr Gatte, St. Arnaud, ist Offizier, der frfihzeitig seinen Abschied genommen hat, und gut 20 Jahre alter als seine fragile Frau. Am Reiseziel angekommen findet ein junger Zivilingenieur Interesse an diesem ungleichen Ehepaar; durch seine Augen lernen wir Cécile besser kennen: "Ihr Profil war von seltener Reinheit, und das Fehlen jeder Spur von Farbe gab ihrem Kopfe, darin Apathie der vorherrschende Zug war, etwas Marmornes" (Cecile, S. 20). Woran diese Frau leidet, erfahren wir aus der Darlegung ihres Mannes fiber die gesundheitsffirdernden Eigenschaften der Harzer Hfihenluft: "'Es soll dort die beste Luft ffir Nervenkranke sein'" (Cecile, S. 21). Genauere Informationen fiber den Stand ihrer Gesundheit werden nicht bekannt; es heiBt nie, die Dame ist krank, sondern nur "'die Dame scheint krank'" (Cecile, S. 13). Dieses scheint auch der "Knacks" zu sein, von dem Fontane so schwarmerisch gesprochen hatte.3 Eine passive Melancholie liegt fiber ihrer Gestalt, welche den Leser ‘anregt, mehr fiber ihre Vergangenheit erfahren zu wollen, was dem Roman eine gewisse Spannung verleiht. Céciles passive Existenz als Titel- figur ist eine Ausnahme unter den Berliner "Frauenromanen", wo die Frauen hauptsachlich die aktiven Tragerinnen der Handlung sind. 43 Cécile ist auch passiv in ihrer Ehe, eine Haltung, in der sie ihr Mann, St. Arnaud, voll unterstfitzt. Fontane legt groBen Wert darauf, dem Leser dieses Eheverhaltnis vorzuffihren. Auf eine Frage Céciles an ihren Mann, ob sie etwas fiber eine gewisse Malerin wissen mfiBte, antwortet er: "'Meinem persfinlichen Geschmacke nach brauchen Damen fiberhaupt nichts zu wissen. Und jedenfalls lieber zu wenig als zu viel'" (Cecile, S. 35). Es ware eine Gefahr ffir seine Mannlichkeit, bei seiner Frau Intelli- genz und Wissen zu finden. Sie ist ffir ihn ein aparter asthetischer Gegenstand: "'Dich zu sehen, ist eine Freude.. .. Also lassen wir das dumme Wissen'" (Cecile, S. 35). St. Arnaud sieht sich seiner Frau gegenfiber in einer Vaterrole; jeder Schritt, den sie unternimmt, wird von ihm geleitet. Es ist kein Zufall, daB Gordon von ihr als einer Frau mit einer "Kinderseele" spricht: "'Dame von Welt und dann wieder voll Kindersinn'" (Cecile, S. 53). Eine junge Malerin namens Rosa Hexel bildet das genaue Gegenteil zu Cécile; als selbstandige Kfinstlerin ist sie die einzige Frauengestalt, welche in diesem Roman als emanzipiert gelten kfinnte. Die Selbstandig- keit, mit der Rosa auftritt, wirkt bedrohlich auf Cecile: "'GewiB, ich finde das Fraulein sehr unterhaltlich, aber doch etwas emanzipiert oder, wenn dies nicht das richtige Wort ist, etwas zu sicher und selbstbewuBt'" (Cecile, S. 55). Dies sind fibrigens fast die gleichen Worte, mit denen Botho in Irrungen Wirrungen Lene beschreibt.“ Cécile spielt die tradi- tionelle Frauenrolle der oberen Schicht, bedacht auf Sich-Einffigen, Unterwfirfigkeit und Verneinung jeglicher Intelligenz. Auf eine langwierige Erklarung des Privatgelehrten Eginhard antwortet sie: "'Sie mfissen es leicht nehmen. Es ist nicht jedermanns Sache, grfindlich zu 44 sein. Und nun gar erst wir Frauen. Sie wissen, daB wir jedem ernsten Studium feind sind'" (Cecile, S. 69). Trotz aller Anpassungsfahigkeiten ist Cécile nicht glficklich in ihrer Ehe. Auf schfine Worte und Komplimente reagiert Cécile mit ge- mischten Geffihlen: "Solche Huldigungsworte taten ihr wohl, auch wenn sie von St. Arnaud kamen" (Cecile, S. 71). Dieses "auch wenn" informiert fiber das Glfick in dieser Ehe. Etwas weiter steht: "Der Oberst nahm Céciles Hand, und die schfine Frau lehnte sich mfid' und auf Augenblicke wie glficklich an seine Schulter" (Cecile, S. 72). Hier ist es das WIE, welches den wahren Sachverhalt mitteilt, wenn auch sparsam in der Be- schreibung; durch sachgerechte Lektfire erffihrt der Leser dieses Mit- schwingen einer ehelichen Dissonanz. Fontanes kfihles Interesse dominiert die Handlung. Dies ist der Grund, warum nur wenig menschliches Mitgeffihl aufkommt. Menschliche Konflikte werden aus zu groBer objektiver Distanz untersucht. Psycho- logische Nuancen mfissen mfihsam aus fiberlangen Unterhaltungen herausge- zogen werden. 0ft dehnen sich gesellschaftliche Unterhaltungen zu epischen Geschichtsabhandlungen aus, welche den Lauf der Handlung zu lange unter- brechen. Fontane war sich darfiber vfillig im klaren, wie aus einem Brief vom 8. September 1887 an seinen Sohn Theodor hervorgeht: ".. . ich hatte es (die Geschichtsabhandlungen) aber nicht tun sollen, die Novelle ware dadurch um etwas kfirzer und um vieles besser geworden!" Die erste Halfte des Romans ist dem Ferienaufenthalt im Harz gewidmet 'und dient fast ausschlieBlich der Exposition. Das gewissermaBen frag- wfirdige Eheverhaltnis des Paares wird durch den Einbruch einer dritten Person, Leslie Gordon, der sich dem Ehepaar anschlieBt, den Beteiligten bewuBt. Gordon ist von dem geheimnisvollen Wesen Céciles fasziniert, .- 45 huldigt ihrer Schfinheit und ist voller ritterlicher Verehrung ihr gegenfiber. Cécile empfindet diese Huldigung nicht ohne Eitelkeit als ein Zoll, den ihr die Mannerwelt schuldet. Sie ist sich ihrer eigenen physischen Schfinheit bewuBt als des einzigen greifbaren Kapi- tals, welches ihren Wert in der Gesellschaft bestimmt und sie den Schandfleck ihrer eigenen Vergangenheit vergessen laBt. Trotz aller Huldigungen ist Cécile nicht glficklich in ihrer Rolle. Als sie auf einem Ausflug ins Land den Ritt auf einem Esel zurfickweist und lieber zu Pferd reitet, sagt sie: "'Die Manner sitzen ohnehin auf dem hohen Pferd; schlimm genug; reitet man aber gar noch aus freien Stficken zu Esel neben ihnen her, so sieht es aus wie GutheiBung ihres de haut en has. Und das darf nicht sein'" (Cecile, S. 100). Da St. Arnaud seine Frau vernachlaBigt, hat Gordon die Mfiglichkeit, seine Freundschaft mit Cécile zu vertiefen. Er konstatiert St. Arnauds VernachlaBigung ihr gegenfiber und bemerkt einen gewissen Kontrast: Er "'ist doch sonst voll Aufmerk- samkeit und Rficksichtnahme.'" Darauf Cécile: "'Ja', sagte sie langsam und gedehnt. Und eine Welt von Verneinung lag in diesem Ja" (Cecile, S. 102). Ihr passives Verhalten gibt Gordon Mut, seine Distanz ihr gegenfiber zu verringen: "Gordon aber nahm ihre lassig herabhangende Hand und hielt und kfiBte sie, was sie geschehen lieB" (Cecile, S. 102). Damit ist der Hfihepunkt des Romans erreicht. Es ist auch die Zeile, welche die grfiBte Leidenschaft aufweist. Weiter laBt es Fontane nicht kommen. Céciles Haltung lfist eine Verwirrung in Gordon aus: darf er sich mehr als einen Handedruck und -kuB erhoffen? Sie erinnert ihn an die schottische Kfinigin Mary: "'Etwas Katholisches, etwas Glut und Frfimmig- keit und etwas SchuldbewuBtsein. Und zugleich ein Etwas im Blick, wie 46 wenn die Schuld noch nicht zu Ende ware. Ja, daran erinnert sie mich'" (Cecile, S. 107). Gordons Beruf laBt ihm keine Zeit, diesen Gedankengangen weiter nachzuhangen; er muB den idyllischen Ferienplatz im Harz verlassen. Doch geht er den inneren Konflikten damit nicht aus dem Wege. Die Frage beschaftigt ihn weiterhin, ob er sie wiedersehen wird und was er sich aus dieser Liebe zu ihr erhoffen darf: "'Was sie von mir erwartet, sind Umwerbungen, Dienste, Huldigungen. Und Huldigungen sind wie Phosphor- hfilzer: eine zufallige Friktion, und der Brand ist da'" (Cecile, S. 110). Zur Beruhigung seiner stfirmischen Geffihle stilisiert er sein privates Problem hoch zu genereller Bedeutsamkeit: "'Und schlieBlich haben wir nichts als eine Frau, die, wie tausend andere, nicht glficklich und auch nicht unglficklich ist'" (Cecile, S. 126). wahrend ihn sein gesunder Menschenverstand warnt, sich nicht weiter mit dem Hause St. Arnaud zu befassen, laBt ihn seine Leidenschaft nicht danach handeln. Er muB Cécile in Berlin wiedersehen, und er sucht daher den gesellschaftlichen Verkehr mit den St. Arnauds nach deren Rfickkehr aus dem Sommeraufenthalt. Auch Rosa Hexel pflegt ihre Beziehungen mit den St. Arnauds weiterhin. Als 'Naturkind mit Staffelei' wirkt sie in Berlin und besonders beim Dinner, zu dem sie Cécile eingeladen hatte, hoffnungslos fehl am Platze, aber sie hat eine gute Nase ffir das Ehe- verhaltnis ihrer Gastgeber, und in Gordon findet sie einen eifrigen Zuhfirer: "Ja", schloB Rosa, "sein Verhfiltnis zu Cécile, da hab' ich kein gutes Wort ffir ihn. Mitunter freilich hat er seinen Tag der Rficksichten und Aufmerksamkeiten, und man kfinnte dann beinahe glauben, er liebe sie. Aber was heiBt Liebe bei Naturen wie St. Arnaud? Und wenn es Liebe ware, wenn wir's so nennen wollen, nun, so liebt er sie, weil sie sein ist, aus Rechthaberei, Dfinkel und Eigensinn, und weil 47 er den Stolz hat, eine schfine Frau zu besitzen. In Wahr- heit ist er ein alter Garcon geblieben, voll Egoismus und Launen, viel launenhafter als Cécile selbst. Die Armste hat ihr Herz erst neulich darfiber zu mir ausgeschfittet. 'Er halt', sagte sie, 'viertelstundenlang meine Hand und erschfipft sich in Schfinheiten gegen mich, und gleich danach geht er ohne GruB und Abschied von mir und hat auf drei Tage vergessen, daB er eine Frau hat'" (Cecile, S. 140-141). Ein Brief von Gordons Schwester Klothilde bringt eine plfitzliche Veranderung in seiner Beziehung zu Cecile. Neugierig fiber die gesell- schaftliche und persfinliche Vergangenheit Céciles, hat er seine Schwester brieflich gebeten, ffir ihn Einkfinfte fiber Cécile einzuholen. Nach langem Warten erhalt er Antwort. Unangenehme Neuigkeiten werden ihm hier unterbreitet: Cecile neé Zacha war die Geliebte eines Ffirsten, wurde nach dessen Tode an den Neffen weiter gereicht, und als dieser auch verschied, nahm sich der Kammerherr ihrer an: "Ffirstengeliebte, Favoritin in duplo, Erbschaftsstfick von Onkel auf Neffe! Und dazwischen der Kammerherr.. ." (Cecile, S. 145). Unfahig sich damit auseinander- zusetzen, wirft Gordon den inhaltsschweren Brief fort. Er sieht nur den gesellschaftlich negativen Teil dieser Information, obwohl seine Schwester ihm genug Grfinde ffir Céciles zwielichtige Vergangenheit gibt: "Wirklich, mein Lieber, an solchen unglfickseligen Gestirnen hat es im Leben dieser schfinen Frau nicht gefehlt. Ihre frfihesten Jugendjahre haben alles an ihr versaumt, und wenn es auch nicht unglfickliche Jahre waren (vielleicht im Gegen- teil), so waren es doch nicht Jahre, die feste Fundamente legen und Grundsatze befestigen konnten" (Cecile, S. 145). Cécile stammt aus einer verarmten polnischen Adelsfamilie: "An Erziehung war nicht zu denken. Frau von Zacha lachte, wenn sie horte, daB ihre Tfichter doch etwas lernen mfiBten. Sie selbst hatte sich dessen entschlagen und sich trotzdem sehr wohlgeffihlt, bis zum Hinscheiden ihres Mannes gewiB und nachher kaum minder. Es stand fest ffir sie, daB eine junge schfine Dame nur dazu da sei, zu gefallen, und zu diesem Zwecke sei wenig wissen besser als viel. Und so lernten sie nichts" (Cecile, S. 146). 48 Die Mutter verschachert ihre Tochter an den Ffirsten, um der Familie aus den finanziellen Schwierigkeiten zu helfen. Nach dem Ableben des Ffirsten und seines Neffen besteht ffir Cécile kein Grund, am Hofe zu bleiben; sie kehrt wohlhabend in den SchoB ihrer Familie zurfick. Durch ihre 'Karriere' am Ffirstenhof hat auch die Familie gewonnen: "'Eine VerhaltnismaBig glanzende Wohnung wurde genommen, und in dieser Wohnung war es, daB St. Arnaud zwei Jahre spater die still und zurfickgezogen lebende Cécile (damals noch katholisch) kennenlernte'" (Cecile, S. 144). Obwohl Gordon einen Moment lang Verstandnis ffir Céciles Situation aufbringt - "'Sie hat sich dies Leben nicht ausgesucht, sie war darin geboren'" (Cecile, S. 148) -, fiberwaltigen ihn doch seine gesellschaft- lichen Vorurteile: und das geschieht ihm, einem gesellschaftlichen AuBenseiter, der in der Welt herumgekommen ist und der sich fiber derartige Voreingenommenheiten hinwegsetzen sollte. Aber Welterfahrung schfitzt nicht vor moralischen Fehlurteilen. Deren Wurzeln reichen tief in das Wertgeffige der Gesellschaft hinab. Cécile ist eine Pittelkow aus der oberen Klasse, ohne aber deren (Pittelkows) Lebensmut zu haben. Sie war immer nur ein Objekt, welches von einem Mann zum anderen gereicht wurde. Ihre nervfise Melancholie ist die Reaktion ihres Gewissens vis a vis der Gesellschaft. In ihr offen- bart sich ein hoffnungsloses Dasein, in dem der Mensch keinen Anspruch auf persfinliches Glfick stellen darf! Ober St. Arnaud erfahren wir, daB er als Oberstleutnant der Garde ein "'brillanter Soldat und unverheiratet'" sei (Cecile, S. 142) und Cécile nach ihrer Rfickkehr im Hause ihrer Mutter kennenlernt; wie aus Trotz gegenfiber der Gesellschaft verlobt er sich mit ihr. Ein Vertreter des Offizierkorps laBt St. Arnaud wissen, daB seine Heiratsplane nicht 49 standesgemaB genug seien: "'Daraus entstand eine Szene, die mit einem Duell endete. Dzialinski wurde durch die Brust geschossen. ..'" (Cecile, S. 143). Ohne selbst schuldig zu sein, lfist Cécile eine Schuld aus; sie, der passive Mensch, verursacht indirekt den Tod eines Menschen. Auf das Urteil der Gesellschaft reagiert sie mit Resignation. Wie in einem Trancezustand geht sie durchs Leben, ohne groBes Glfick, aber auch ohne groBes Leid. Es ist, als ob sie den Kontakt mit der Realitfit ab- wehren mfiBte, da diese ihr Untergang sein kfinnte. Ihre Freundschaft mit Gordon bewirkt einen Einbruch der objektiven Wirklichkeit in ihre Weltferne. Sie muB den Freund auf Distanz halten, um sich ihre innere seelische Balance zu bewahren. Doch als Gordon jetzt Cécile mit ganz neuen Augen sieht - ffir ihn ist sie nicht mehr die naive Ehefrau, sondern eine Frau mit Vergangenheit -, glaubt er, sich ihr gegenfiber Freiheiten erlauben zu kfinnen. Céciles guter Menschensinn spfirt sofort den Um- schwung: "'Nein, Herr von Gordon, nicht so. Bleiben Sie mir, was Sie waren. Ich finde Sie so verandert und frage vergebens nach der Ursache'" (Cecile, S. 154). Aber Gordon kann sich nicht losreiBen. Nach einer kurzen Abwesenheit von Berlin und trotz besten Vorsatzes, Cécile nicht mehr sehen zu wollen, begegnet er ihr wahrend einer Vorstellung von Wagners Tannhauser. Da sie nicht allein ist, sondern in der Begleitung des von ihm gehaBten Geheim- rates Hedemeyer, verliert er seine Haltung. Aufgestachelt durch Eifer- sucht provoziert er eine Szene in der Loge, welche Parallelen zu der schwfilen Erotik der Bfihnenhandlung aufzeigt. In der Oper geht es um den Konflikt zwischen Ritterethos und Eros, zwischen Anbeten der geliebten Frau und dem Ausleben der Sinnesleidenschaften. In der Loge des Theaters lehnt Gordon die Rolle des ritterlichen Hausfreundes ab. Er glaubt sich 50 nun Freiheiten nehmen zu dfirfen, da seine "Ritterdame" nicht ohne Fehl ist. Cécile flieht verletzt aus dem Theater; Gordon folgt ihr unbeherrscht in ihre Wohnung. Blinde Eitelkeit laBt ihn erneute Beleidigungen aus- stoBen, welche auf Céciles Vergangenheit anspielen. "'Wir bleiben unserer Natur treu, das ist unsere einzige Treue. .."' - mit diesen Worten verlaBt er das Haus (Cecile, S. 170). Nun ist auch St. Arnauds mannliche Eitelkeit angegriffen, . .. denn er war an seiner empfindlichsten, wenn nicht an seiner einzig empfindlichen Stelle getroffen, in seinem Stolz. Nicht das Liebesabenteuer als solches weckte seinen Groll gegen Gordon, sondern der Gedanke, daB die Furcht vor ihm, dem Manne der Determiniertheiten, nicht abschrek- kender gewirkt hatte. Geffirchtet zu sein, einzuschfichtern, die Superioritat, die der Mut gibt, in jedem Augenblicke ffihlbar zu machen, das war recht eigentlich seine Passion (Cecile, S. 172-173). Auch Gordon bleibt seiner Natur treu. Er ist ein 'Trotzkopf' und stellt sich der Herausforderung St. Arnauds zum Duell. Ffir beide Betei— ligten verlangt die beleidigte mannliche Ehre Genugtuung. Beide sind Sklaven der gesellschaftlichen Konventionen. Geschichte wiederholt sich, der fast Sechzigjahrige erschieBt den um vieles Jfingeren. St. Arnaud will die gesetzlichen Konsequenzen seines Handelns nicht auf sich nehmen. Er flieht an die Riviera, um unter sfidlicher Sonne sich von den gesell- schaftlichen Strapazen zu erholen. Er schreibt an seine Frau: "'Aber nimm das Ganze nicht tragischer, als nfitig; die Welt ist kein Treibhaus ffir fiberzarte Geffihle'" (Cecile, S. 178). Ffir Cécile wiederholt sich die Vergangenheit; wieder tragt sie eine indirekte Schuld am Tode eines Menschen. Die Krafte zum Weiterausharren fehlen ihr. Sie scheidet freiwillig aus dem Leben. Durch ihr Testament beweist Cécile, daB sie nicht unter Schuldgeffihlen der Gesellschaft 51 gegenfiber gelitten hat: "'Ich wfinsche nach Cyrillenort fibergeffihrt und auf dem dortigen Gemeindekirchhofe, zur Linken der ffirstlichen Grabkapelle, beigesetzt zu werden. Ich will der Stelle wenigstens nahe sein, wo die ruhen, die in reichem MaBe mir dds gaben, was mir die Welt verweigerte: Liebe und Freundschaft und um der Liebe willen auch Achtung. ..'" (Cecile, S. 179). Im Tode flieht Cécile nicht mehr von ihrer Vergangenheit, sie bekennt sich offen dazu. Hatte sie diesen Mut zu ihrer Lebenszeit aufgebracht, ware es nicht zur Tragfidie gekommen. Die gesunde Lebenseinstellung einer Pittelkow aus der unteren Volksschicht fehlt ihr eben. Sie erleidet die gleiche Lebensuntfichtigkeit wie Waldemar von Haldern: beide kommen aus den oberen Schichten, beide stehen in einem gestfirten Verhaltnis zu ihrer eigenen Gesellschaftsklasse. Sie werden so zu AuBenseitern, ohne die Kraft zu haben, dies auch ertragen zu konnen. Gibt es eine Schuld, so liegt sie vielleicht in der natfirlichen Schfinheit Céciles. Ihre physischen Qualitaten ffihren dazu, daB ihre Mutter sie an den Ffirsten verkauft. Rosa Hexel, die als freie Kfinstlerin etwas auBerhalb der Gesellschaft steht, erkennt die Problematik in ihrer Geschlechtsgenossin: "'Ach, die arme Frau! Es wird wohl auch nicht alles sein, wie's sein sollte. Schonheit ist eine Gefahr von Jugend auf'" (Cecile, S. 140). Diese Schfinheit liefert sie der Mannerwelt aus, sie wird zu einem begehrten Objekt; willenlos und ohne eigene Initiative laBt sie dies geschehen; denn in ihrer Gesellschaftsschicht gilt eine Frau mit Initiative als unweiblich. Das ist die Tendenz. von der sie sich nicht selbst lfisen kann. Die ganze Hoffnungslosigkeit dieser Situation gibt dem Roman eine trfibe Stimmung und an gewissen Stellen sogar Energielosigkeit. Es fehlen die frischen, weiblichen Gestalten aus den unteren Schichten, mit ihrer 52 Lebenskraft und warme. Es gibt kein Hoffen auf eine bessere Zukunft, nur eine mfide Resignation. "Wohin sie (Cécile) in der von Fontane gezeichneten Welt auch greift, sie greift ins Leere, ein schuldlos- unschuldiges Opfer unheilvoller menschlicher Verfehlungen, gesellschaft- licher Unbarmherzigkeit und der der Zeit eigenen Leere."5 Rosa Hexel, die Kfinstlerin und AuBenseiterin, hatte als einzig emanzipierte Frau einen Hoffnungsschimmer aufkommen lassen kfinnen, aber sie ist zum Blumenmalen verdammt: "'Eine Dame soll Blumenmalerin sein, aber nicht Tiermalerin. So fordert es die Welt, der Anstand, die Sitte. Tiermalerin ist an der Grenze des Unerlaubten'" (Cecile, S. 26). Tier- malerin sein ware eine Auseinandersetzung mit der Realitat. Blumen aber reprasentieren das, was die Frau in diesen Schichten darstellt: ein zum asthetischen GenuB bestimmtes Objekt. Céciles Reaktion auf diese Welt ist eine psychologische Krankheit. Als Geffihlsmensch kann sie nicht gesund in einer erkrankten Welt existieren. In ihrer gesellschaftlichen Sphare tragt sie keine Funktion und findet keine Aufgabe, die ihrem Leben Sinn und Halt geben kfinnte. Jenny War die Enge einer lieblosen Ehe ffir Cécile die Hauptursache ihres Untergangs, so ist ffir Jenny Treibel, nee Bfirstenbinder, die Ehe die Kronung ihres Lebens, worauf ihre ganze existentielle Sicherheit ruht. Ihr Fall stellt den Aufstieg eines Mitglieds der unteren Bfirgerschicht in die neureiche Gesellschaft dar. Einen solchen 'Parvenfi' nannte man im 19. Jahrhundert ‘Bourgeois'; er zeichnete sich durch Besitztum aus, war aber selbst ohne geistiges Niveau und ohne eigentliches Bildungs- gut. 53 In dem Roman Frau Jenny Treibel entwirft Fontane das Milieu einer fibersattigten Bfirgerlichkeit; sie, die Bourgeoisie, weiB sich im vollen Glanz zu reprasentieren, um die niedrige Herkunft aus dem kleinen Laden in der AdlerstraBe mit Hilfe der Prunkvilla, welche mit Freitreppe und Springbrunnen ausgestattet ist, zu vertuschen. Um den Mangel an Bildung zu fiberspielen, ereifert sich diese Bourgeoisie in Sentimentalitaten. Aufkommendes SchuldbewuBtsein fiber soviel Selbstsucht der Geldgesinnung seitens dieser Klasse soll so unterdrfickt werden. Die Milieuschilderung ist wie bei keinem der anderen Romane ausgedehnt gezeichnet, da das Milieu selbst zur Karikatur wird. Schon geraume Zeit vor der Niederschrift des Romans befaBte sich Theodor Fontane mit der Wesensart dieser Bfirgerschicht. Seine Tante Pine trug viele Charakterzfige einer Jenny Treibel. In einem Brief an seine Frau schreibt er am 5. August 1875 aus Basel - nicht immer gallant - fiber den Besuch bei seiner Tante: Ich kann nicht sagen, daB mich irgend etwas erheblich gestfirt hatte, im Gegenteil, ihr Wesen ist nicht ganz ohne matronen- hafte Wfirde, soweit ein Sperling Wfirde haben kann. Sie war aufrichtig erfreut, mich wiederzusehen, und gab dieser Freude in einer ruhig manollen Weise Ausdruck. Insoweit konnte ich ganz und gar zufrieden sein. Sie ist aber tieflangweilig, genau so wie ihre Briefe. Alles ist wohlgesetzt und gibt sich den Anschein von Bildung, des Gedanklichen, der Ideen und des Idealen. Sie hat aber von alledem nichts. Alles ist Blech, klappert indes so geschickt, daB man es, bei einiger Unaufmerksamkeit, ffir Musik halten kann. Der Mensch stirbt, wie er geboren wird. So war sie vor ffinfzig Jahren und so wird sie aus dieser Zeitlichkeit scheiden. Die Fleisch gewordene Phrase, soweit man von Fleisch fiberhaupt reden kann, aber innerhalb der Phrasenhaftigkeit guten Glaubens und von der Echtheit ihrer Empfindungen, von der Mission, die sie innerhalb der Idealwelt erffillt hat, tief durchdrungen. Ich weiB nicht, soll ich sagen eine beneidenswerte oder eine traurige Erscheinung! Fontane fand in seinem eigenen Familienkreis mehrere Persfinlichkeiten, welche Eigenschaften des problematischen neuen Menschentypus inkorporierten. 54 Die Schwester seiner Frau, Tante Jenny, gab ihm mehr als nur ihren Namen ffir seine Milieustudien. In einem Brief vom 18. April 1884 an seine Tochter Mete beschreibt er seinen Besuch, der zu Ehren von Tante Jennys Geburtstag stattfand. Vieles paBte ihm nicht im Hause seiner Verwandtschaft: Ich kann den Bourgeoiston nicht ertragen und in der selben Weise wie ich in frfiheren Jahrzehnten eine tiefe Abneigung gegen Professorenweisheit, Professorendunkel und Professoren- liberalismus hatte, in der selben Weise dreht sich mir jetzt angesichts des wohlhabend gewordenen Speckhfikerthums das Herz um. Weiter unten im Brief spricht er nochmals fiber die Konsumeigenschaften dieser Menschenklasse: Mutter Bourgeois hat sich eine Spitzenmantille gekauft und behandelt diesen Kauf als ein EreigniB, alles was angeschafft oder wohl gar "vorgesetzt" wird, wird mit einem Blicke be- gleitet, der etwa ausdrfickt: "Beglfickter Du, der Du von diesem Kuchen essen, von diesem Weine trinken durftest", alles ist kindische Uberschatzung einer Wirthschafts- und Lebensform, die schlieBlich gerade so gut Sechser-Wirthschaft ist wie meine eigne. Nun versteht man, warum die endlosen EBgelage in Jenny mit solcher Breite geschildert werden. In fortschreitendem Alter wuchs Fontanes Unwillen gegen den Bourgeois. Sieben Jahre nach dem oben erwahnten Brief befaBte er sich wieder mit dem Thema, wieder in einem Brief an seine Tochter (25. August 1891): Ich hasse das Bourgeoishafte mit einer Leidenschaft, als ob ich ein eingeschworner Socialdemokrat ware. "Er ist ein Schafskopf, aber sein Vater hat ein Eckhaus", mit dieser Bewundrungsform kann ich nicht mehr mit. Wir erheben uns so fiber die Chinesen, aber darin sind diese doch das feinste Volk, daB das Wissen am hfichsten gestellt wird. Bei uns kann man beinah sagen, es diskreditiert. Das Bourgeoisgeffihl ist das zur Zeit bei uns maBgebende und ich selber, der ich es graBlich finde, bin bis zu einem gewissen Grade von ihm beherrscht. Die letzte Zeile des Briefes weist auf den selbstkritischen Ton hin, den Fontane in diesem Werk anschlagt. 55 In einem Brief vom 9. Mai 1888 an seinen Sohn Theodor legt Fontane die Intention seines Romans Jenny dar: "Zweck der Geschichte: das Hohle, Phrasenhafte, Lfignerische, Hochmfitige, Hartherzige des Bourgeois' Standpunkts zu zeigen.. .. Ich schlieBe mit dieser Geschichte den Zyklus meiner Berliner Romane ab.. .." Die Entstehungszeit des Werkes fallt in die Jahre 1888 bis 1891. Die erste Buchausgabe erfolgte im Oktober 1892. Die Hauptpersonen sind ein Gymnasialprofessor namens Wilibald Schmidt und eine Kommerzienratin Jenny Treibel. Schmidt, ein Witwer, hat eine Tochter, Corinna; Jenny Treibel, seine alte Jugend- freundin, hat zwei Sfihne, Leopold und Otto, welche das Gegenstfick zu ihrer resoluten Mutter bilden. Weder die Bildungs- noch die Besitzsphare werden positiv geschildert. An beiden Seiten fibt Fontane Kritik. Auf der Professorenseiuesteigert sich Wissen zu Bildungssnobismus, in dem ein weltfremder Padagoge sich fiber humanistische Ideale auslaBt. Auf der anderen Seite schildert Fontane eine fiberffitterte neureiche Fabri- kantenfrau, die sich in sentimentalen Oberschwenglichkeiten selber zu Tranen rfihrt. In der Wirtschafterin des Hauses Schmidt, namens Schmolke, schuf Fontane wieder eine seiner lebenstfichtigen Gestalten aus der unteren Volksschicht. Sie durchschaut das Getue und den Snobismus beider Seiten. Nach einem Besuch Jenny Treibels im Hause Schmidt teilt Schmolke ihre Eindrficke Corinna mit, an der sie Mutterstelle vertreten hat: ". .. die Ratin, die hat so was, was mir nich recht paBt, un ziert sich immer un tut so, un wenn was Weinerliches erzahlt wird von einem Pudel, der ein Kind aus dem Kanal gezogen, oder wenn der Professor was vorpredigt un mit seiner BaBstimme so vor sich hinbrummelt: 'wie der Un- sterbliche sagt'. .. un dann kommt immer ein Name, den kein Christenmensch kennt un die Kommerzienratin woll auch nich — dann hat sie gleich immer ihre Trane un sind immer wie Stehtranen, die gar nicht runter wolln" (Jenny, S. 140). 56 Schmolke ist eine "Frau von ausgangs Vierzig, mit einem ansehnlichen Haubenbau auf ihrem von Herdfeuer gerfiteten Gesicht" (Jenny, S. 8). Mehr laBt uns Fontane nicht fiber ihr Auberes wissen. Sie ist die Witwe eines frfih verstorbenen Berliner Sittenpolizisten. Selbst kinderlos und ohne materielle Gfiter, fibernahm sie bei Professor Schmidt den Haus- halt und die Erziehung seiner Tochter Corinna. Das Kernstfick des Romans bilden die Ambitionen Corinnas, welche, trotz ihrer humanistischen Bildung, sich nach den Besitzungen des Hauses Treibel sehnt: "'.. . die Jugend ist gut. Aber "Kommerzienratin" ist auch gut und eigentlich noch besser'" (Jenny, S. 10). Ihr Besitz orien- tiertes Ziel wird durch eine Heirat mit Jenny Treibels Sohn Leopold greifbar. Eine Ehe mit ihm wfirde ihr den gewfinschten Titel und die damit verbundenen materiellen Gfiter geben. ware Leopold eine positive mannliche Gestalt, dann taugte dieser Stoff zu einer amfisanten Liebes- geschichte. Aber Leopold ist schwach, ohne das Zeug, das einen rechten Liebhaber ausmacht. Wilibald Schmidt sagt fiber ihn: "'Ich kenn ihn noch aus der Untersekunda her. Weiter kam er nicht; wozu auch? Guter Mensch, Mittelgut, und als Charakter noch unter Mittel'“ (Jenny, S. 81). So wie der ehemalige Lehrer nichts Gutes fiber seinen Schfiler urteilen kann, weiB die Mutter ihren Sfihnen auch nicht viel Schmeichelhafteres nachzusagen: "'Ich weiB nicht, wo beide Jungen diese Milchsuppenschaft herhaben'" (Jenny, S. 86). Jedenfalls ist Leopold kein Charakter, keine Vorlage ffir eine idyllische Liebesgeschichte und schon gar nicht inner- halb der problematischen Wertvorstellungen der Bourgeoisie. Corinna betrachtet, wie die meisten Frauengestalten ihrer Zeit, die Institution der Ehe als eine Versorgungsanstalt, der man angehfiren muB. Auch die Manner berechnen Vor- und Nachteile kaltblfitig. Was bei den Mannern das 57 Eckhaus ist, ist bei den Frauen ihre Jugend und Charm. Das Fundament gesellschaftlicher Bindungen ist in jedem Falle ein Materiellistisches. Die eigentliche Romanhandlung beginnt mit einem Besuch Jennys bei den Schmidts, um ihnen, Vater und Tochter, persfinlich die Einladung zum nachsten Dinner im Treibelschen Haus zu fiberbringen. Ffir Jenny ist es eine Reise in ihre Vergangenheit. Es war die selbe Gegend, . wo sie selbst hier, in ebendieser AdlerstraBe, gewohnt und in dem gerade gegenfibergelegenen Materialwarenladen ihres Vaters mit im Geschaft geholfen und auf einem fiber zwei Kaffeesficke gelegten Brett kleine und groBe Tfiten geklebt hatte, was ihr jedesmal mit 'zwei Pfennig ffirs Hundert' gutgetan worden war (Jenny, S. 8). Es waren genau diese Verhaltnisse, aus denen sie ihren Jugendfreund Schmidt kannte: "'Das Sentimentale liebte sie schon damals, aber doch immer unter Bevorzugung von Courmachen und Schlagsahne.. .. Ein Muster- stfick von einer Bourgeoise'" (Jenny, S. 15). Die treibende Kraft, die ffir Jennys Aufstieg in die Geldaristokratie verantwortlich war, muB Jennys Mutter gewesen sein, die ihr den Sinn ffir das "Hfihere" schon im jungen Alter einflfiBte: "'Meine Mutter, woffir ich ihr noch im Grabe danke, war immer ffir die besseren Klassen. Und das sollte jede Mutter, denn es ist bestimmend ffir unseren Lebensweg. Das Niedere kann dann nicht heran und bleibt hinter uns zurfick'" (Jenny, S. 29). Der Weg ins "Hfihere" war ffir sie eine Heirat mit Treibel, "seinerseits das Produkt dreier im Fabrikbetrieb immer reicher gewordenen Generationen" (Jenny, S. 151). "Der Bourgeois steckte ihm wie seiner sentimentalen Frau tief im Geblfit", trotz seiner guten Geistes- und Herzensanlagen, die er als wohlwollender Fabrikant besaB (Jenny, S. 151). Dieses Bourgeoisteam gibt nun eins ihrer Prunkgelage, womit es sich und sein Haus vorzeigen kann: Frau Jenny prasentierte sich in vollem Glanz, und ihre Herkunft aus dem kleinen Laden in der AdlerstraBe war in ihrer Erscheinung bis auf den letzten Rest getilgt. Alles 58 wirkte reich und elegant; aber die Spitzen auf dem veilchen- farbenen Brokatkleide, soviel muBte gesagt werden, taten es nicht allein, auch nicht die kleinen Brillantohrringe, die bei jeder Bewegung hin und her blitzten; mein, was ihr mehr als alles andere eine gewisse Vornehmheit lieh, war die gicggge Ruhe, womit sie zwischen ihren Gasten thronte (Jenny, Die Gaste am Treibelschen Tische sind grfiBtenteils abgewirtschaftete, herabgekommene Mitglieder des Kleinadels mit rfihmlichen Namen wie "Ziegen- hals", "von Bomst" und "Honig". Jennys Lieblingsbeschaftigung besteht darin, mit den adligen Damen fiber das Leben und Lieben der Adelsklasse Konversation zu pflegen, um sich damit selbst moralisch und gesellschaft- lich eine Stufe hfiher zu plazieren: l”Ich hfire so gern von glficklichen Ehen, namentlich in der Obersphare der Gesellschaft, und ich mfichte dabei bemerken dfirfen, es scheint mir eine torichte Annahme, daB auf den Hfihen der Menschheit das Eheglfick ausgeschlossen sein solle'" (Jenny, S. 27). Das einzig vernfinftige Gesprach ffihrt die bfirgerliche Profes- sorentochter Corinna Schmidt, die sich damit von den anderen Tafelgasten absetzt. Als sie gar zu forsch mit einem englischen Gast namens Nelson zu diskutieren beginnt, macht man sie darauf aufmerksam, daB sie in ihrer Dreistigkeit dem Ansehen der deutschen Weiblichkeit schaden bringen wfirde. Der gallante Englander, ganz angetan von so viel weiblichem Charm, kommt ihr zur Hilfe: "'0, no, no' sagte Nelson: 'Nichts Weiblich- keit; always quick and clever .. ., das is was wir lieben an deutschen Frauen. Nichts Weiblichkeit. Fraulein Corinna is quite in the right way'" (Jenny, S. 35). Corinna ist nicht auf fremde Hilfe angewiesen, da sie sich selbst recht gut verteidigen kann: "'Und zum Zeichen, daB ich, trotz ewigen Schwatzens, doch eine weibliche Natur und eine richtige Deutsche bin, soll Mr. Melson von mir hfiren, daB ich auch noch nebenher kochen, nahen und platten kann.. .'" (Jenny, S. 36). 59 Die Kunst wird von einem Herrn von Krola vertreten; durch den Umstand, daB er "Tenor und Millionar" ist, sitzt er, wie Fontane schreibt, auf "zwei Stfihlen", ein kfinstlerischer Bourgeois, der seine schwindenden Talente zur Schau stellt. Zusammen mit Jenny wird Musik gemacht, wenn man das so nennen kann, denn "einige Augenblicke spater erklang Jennys dfinne, durchaus im Gegensatz zu ihrer sonstigen Ffille stehende Stimme durch den Saal hin, und man vernahm die in diesem Kreise wohlbekannten Liedesworte" (Jenny, S. 48-49). Mit diesem Lied hat Fontane absichtlich ein sentimentales Gedicht geschrieben, ganz in der Tradition der im 19. Jahrhundert beliebten Poesiealbumeintragungen. Die letzte Zeile des Liedes lauft wie ein musikalisches Leitthema durch den ganzen Roman: Glfick, von deinen tausend Losen Eines nur erwahl ich mir. Was soll Gold? Ich liebe Rosen Und der Blumen schlichte Zier. Und ich hfire Waldesrauschen, Und ich seh ein flatternd Band - Aug in Auge Blicke tauschen, Und ein KuB auf deine Hand. Geben nehmen, nehmen geben, Und dein Haar umspielt der Wind. Ach, nur das, nur das ist Leben. Wb sich Herz zum Herzen find't (Jenny, S. 49). Corinnas Verlobter und Cousin, Marcell Wederkopp. macht ihr nach dem Essen, als sie sich auf dem Heimweg befinden, erneuerte Vorwfirfe fiber ihr vorlautes Benehmen. Der wahre Hintergrund ist anders. Marcell ist eifersfichtig, denn Corinna hat durch Charme und Redegewandtheit dem Sohn Jennys, Leopold Treibel, den Kopf verdreht. Sie aber lacht fiber alle Anschuldigungen und verteidigt ihre Position als eine freidenkende Frau: "Ich erfreue mich, dank meiner Erziehung, eines guten Teils von Freiheit, einige werden vielleicht sagen, von Emanzipa- tion, aber trotzdem bin ich durchaus kein emanzipiertes Frauenzimmer. Im Gegenteil, ich habe gar keine Lust, das 60 alte Herkommen umzustoBen, alte gute satze, zu denen auch der gehfirt: ein Madchen wirbt nicht, um ein Madchen wird geworben" (Jenny, S. 53). Aber das Passive an diesem Geworben-werden laBt sich manipulieren, und so folgert sie gleich weiter: "'Aber freilich, das ist unser altes Evarecht, die groBen Wasser spielen zu lassen und unsere Krafte zu gebrauchen, bis dds geschieht, um dessentwillen wir da sind, mit anderen Worten, bis man um uns wirbt'" (Jenny, S. 54). Das alte Evaspiel ist dem jungen Treibel nicht aus Liebe gewidmet, sondern - und dies gesteht sie ihm freimfitig und ohne Zurfickhaltung - aus einem "'Hang nach Wohl- leben, der jetzt alle Welt beherrscht, hat mich auch in der Gewalt, ganz so wie alle anderen.. .. Ich find es ungemein reizend, wenn so die kleinen Brillanten im 0hre blitzen, etwa wie bei meiner Schwiegermama in spe. .."' (Jenny, 5. 55-56). Corinna ist die Einzige, die sich selbst ganz objektiv betrachten kann, eine Eigenschaft, die sogar ihrem Professorenvater fehlt. Sie ist intelligent, doch ihre Ambitionen, ihre soziale Stellung zu verbessern, verwirklicht sie weniger durch Eigenleistung als durch eine profitbringende Heirat. Als Kontrast zum Treibelschen Dinner in ihrer Millionarsvilla beschreibt Fontane anschlieBend den Gelehrtenabend bei Wilibald Schmidt. Man mfiBte meinen, in diesem Milieu eine positivere und warmere Atmosphare zu finden, aber wir werden bald enttauscht. Professoren eines firtlichen Gymnasiums, mit den schfinen Namen Rindfleisch, Hanibal Kuh und Immanuel Schultze, blasen, aus Meerschaumpfeifen rauchend, akademische Gesprache und blaue Wolken in die Luft. Es kommen sowieso nur die, "die nichts Besseres vorhatten; Theater und Skat gingen weit vor.. ." (Jenny, S. 59). Fontane beschreibt das Bildungsbfirgertum mit beiBendem Sarkasmus. Die Reprasentanten leben in moderiger Abgeschlossenheit der Bficher in ihrem 61 Elfenbeinturm, und Heinrich Schliemanns Ausgrabungen in Mykena werden engstirnig angezweifelt: "'Du kannst dir nicht vorstellen, daB jemand, der Tfiten geklebt und Rosinen verkauft hat, den alten Priamus aus- buddelt.. .'" (Jenny, S. 65). Auch in diesem Gesellschaftskreis spielt das Essen eine groBe Rolle. Beim Thema Hummer oder Krebse wird Professor Schmidt pathetisch, er gerat in den selben seichten Pathos wie seine Freundin Jenny und zeigt die selbe platte GenuBsucht, die die Gelage im Treibelschen Haus aus- zeichnet: ". .. auch nach Aonen noch werden Menschenkinder sich dieser Himmelsgabe freuen - ja, Freunde, wenn man sich mit diesem Geffihl des Unendlichen durchdringt, so kommt das darin liegen- de Humanitare dem Hummer und unserer Stellung zu ihm unzwei- felhaft zugute. Denn jede philanthropische Regung, weshalb man die Philanthropie schon aus Selbstsucht kultivieren sollte, bedeutet die Mehrung eines gesunden und zugleich verfeinerten Appetits" (Jenny, S. 73). Nach diesen Sfitzen wird es verstandlich, warum Corinna in diesem Milieu ihren Lebensinhalt nicht finden kann und mit vollem BewuBtsein die Geldaristokratie ansteuert. Wilibald und Jenny haben mehr als nur ihre Jugend gemein. Sie haben sich trotz ihrer separaten Lebenslaufbahn geistig nicht weit von- einander getrennt. Darum erkennt er sie aufs genaueste. Dies kommt zum Vorschein, als Marcell, nachdem sich die Professorenrunde aufge- lfist hatte, sein Leid fiber Corinnas Opportunismus klagt. Als Schmidt von den Planen seiner Tochter erfahrt, beruhigt er seinen Neffen damit, daB Jenny diejenige sein wird, die den voreiligen Planen seiner Tochter einen Strich durch die Rechnung machen wird, denn Corinna hat nicht das Zeug zu einer Treibelschen Schwiegertochter. Ohne kavalierhafte Rficksichtnahme zieht er fiber Jenny her: 62 "Es ist eine gefahrliche Person, und um so gefahrlicher, als sie's selbst nicht recht weiB und sich aufrichtig einbildet, ein geffihlvolles Herz und vor allem ein Herz 'ffir das Hfihere' zu haben. Aber sie hat nur ein Herz ffir das Ponderable, ffir alles, was ins Gewicht fallt und Zins tragt, und ffir viel weniger als eine halbe Million mag herkommen, woher sie will. Und dieser arme Leopold selbst. Soviel weiBt du doch, der ist nicht der Mensch des Aufbaumens oder der Eskapade nach Gretna Green.7 .. . wenn es gilt Farbe zu bekennen, dann heiBt es: Gold ist Trumpf und weiter nichts" (Jenny, S. 81). wahrenddessen bespricht das Ehepaar Treibel nach dem Essen das Kokettieren Corinnas mit ihrem Sohn Leopold. Jenny ist mehr aufgebracht als ihr etwas nfichterner Gemahl. Doch sie ffihrt die Regie im Hause, und er muB sich ihr unterordnen; er schiebt ihr eine FuBbank zurecht, "denn Jenny bedurfte solcher Huldigungen, um bei guter Laune zu bleiben" (Jenny, S. 83). Herr Treibel kennt seinen Sohn und ist ohne Illusionen: "Es gibt ganz verflixte Weiber, und Leopold ist gerade schwach genug, um vielleicht einmal in den Sattel einer armen und etwas emanzipierten Edeldame, die natfirlich auch Schmidt heiBen kann, hineingehoben und fiber die Grenze geffihrt zu werden. .." (Jenny, S. 87). Sogar Jenny traut ihrem Sohn das nicht zuz‘ "'Ich glaube es nicht', sagte die Kommerzienratin, 'er ist leider auch daffir zu stumpf‘" (Jenny, S. 87). Leopold tragt viele Charakterzfige des jungen von Haldern: auch er ist schwach auf der Brust, vom Militar abgewiesen, mit Ambitionen, die realistisch nicht durchffihrbar sind, weil er genetisch zu kraftlos ist. Er weiB von der Bevormundung seiner Mutter, welche seine eigene Entwicklung hemmt. Sie kontrolliert seine Freunde und beeinfluBt diese, nur das zu tun, was der Gesundheit ihres Sohnes nicht schaden kann. Einsichtsvoll sagt er von seiner eigenen Mutter: ". .. sie muB immer die Faden in der Hand haben, sie muB alles bestimmen, alles anordnen, und wenn ich eine 63 baumwollene Jacke will, so muB es eine wollene sein.. .. Ach, es ist zum Argern, alles zum Argern. Bevormundung, wohin ich sehe, schlimmer, als ob ich gestern meinen Einsegnungstag gehabt hatte.. .. Mir fehlt es an Energie und Mut, und das Aufbaumen hab ich nun schon gewiB nicht gelernt" (Jenny, S. 99). Dieses Selbstportrat eines jungen Verliebten zeigt erschreckend wenig Kraft und Sicherheit. Corinna bedeutet ffir ihn eine Hoffnung, sich aus dem Morast seiner Unentschlossenheit zu lfisen: "'Und wenn ich in Unent- schlossenheit zurfickfalle, was Gott verhfite, so wird sie mir die nfitige Kraft geben. Denn sie hat all das, was mir fehlt, und weiB alles und kann alles'" (Jenny, S. 100). Wie Waldemar will auch Leopold seine eigenen Unzulanglichkeiten durch die Talente und Vorzfige einer Frau ausgleichen. Das wfirde jedoch einen Kampf bedeuten, und der Gedanke an diese Bemfihungen laBt ihn schon frfih erschlaffen: "'Ach, ich finde doch beinahe, daB mir mehr aufgelegt wird, als meine Schultern tragen kfinnen'" (Jenny, S. 101). In Irrungen Wirrungen ffihrte eine Landpartie zu einem dramatischen Hfihepunkt des Romangeschehens. Botho und Lene muBten sich mit ihren Geffihlen ffir einander vis-a-vis einer kalten AuBenwelt auseinandersetzen. In Frau Jenny Treibel wird die Darstellung einer Landpartie zu einer Karikatur der gesellschaftlichen Problematik. Vater Treibel ist unge- halten, daB sein Sohn nicht wie ein junger Held hoch zu Ross, sondern "in einer langsam herantrottenden Droschke" ankommt (Jenny, S. 115). Zu Schmidt gewandt, bemerkt er: “.. . es heiBt immer, der Apfel fallt nicht weit vom Stamm. Aber mitunter tut ers doch. Alle Naturgesetze schwanken heutzutage.. .. Und nun sehen Sie sich den Jungen an. Kommt er nicht an, als ob er hingerichtet werden sollte? Denn das ist ja gar keine Droschke, das ist ein Karren, eine Schleife. WeiB der Himmel, wo's nicht drin steckt, da kommt es auch nicht" (Jenny, S. 115-116). 64 Auch Leopolds Bruder Otto erscheint mit seiner Hamburger Ehefrau Helen in dem Familienportrait. AuBerlich geben die beiden den Eindruck eines harmonischen Ehepaares. Es werden Bemerkungen gemacht, welche andeuten, daB der junge Treibel eine glfickliche Ehe ffihren mfisse. Die kfihle Hanseatin Helen scheint zu gebildet und zu distanziert zu sein, um sich den emotionellen Anforderungen eines handfesten Ehestreites auszusetzen. Vater Treibel sieht durch die tauschende Fassade hindurch den wahren Sachverhalt dieser Ehegemeinschaft seines Sohnes: ".. . Und die schlimmsten Ehen sind die, lieber Krola, wo furchtbar 'gebildet' gestritten wird, wo, wenn Sie mir den Ausdruck gestatten wollen, eine Kriegsffihrung mit Sammet- handschuhen stattfindet, oder richtiger noch, wo man sich, wie beim rfimischen Karneval, Konfetti ins Gesicht wirft. Es sieht hfibsch aus, aber verwundet doch. Und in dieser Kunst anscheinend gefalligen Konfettiwerfens ist meine Schwiegertochter eine Meisterin. Ich wette, daB mein armer Otto schon oft bei sich gedacht hat, wenn sie dich doch kratzte, wenn sie doch mal auBer sich ware, wenn sie doch mal sagte: Scheusal oder Lfigner oder elender Ver- fiihrer . . ." (Jenny, S. 120) So werden Kfihle und Distanz zu negativen Kriterien! Auf eine Frage, wie es denn in solch sterilen menschlichen Beziehungen zu einem richtigen Zank kame, gibt uns Treibel weitere Einsicht in die bourgeoise Ehe: "Der [Zank] kommt doch. Er tritt nur anders auf, anders, aber nicht besser. Kein Donnerwetter, nur kleine Worte mit dem Giftgehalt eines halben Mfickenstichs, oder aber Schweigen, Stummheit, Muffeln, das innere Dfippel der Ehe, wahrend nach auBen hin das Gesicht keine Falte schlagt. Das sind so die Formen" (Jenny, S. 121). Wie zum Hohn der oben geffihrten Ehethesen spazieren Leopold und Corinna in romantischem Einverstandnis einher. Corinna hat ihre eigenen Plane im Kopf, die sie an den Mann zu bringen plant. Geschickt manfivriert sie Leopold in eine Situation, in der sie ihm ein Liebesgestandnis abringt: "'Ach, Corinna, ich kann ohne Sie nicht leben, und diese Stunde muB fiber mich entscheiden'" (Jenny, S. 129). Die schicksalsschweren 65 Worte sind gefallen. Von diesem Moment an betrachtet sich Corinna als verlobt. Zur gleichen Zeit spricht Jenny mit Professor Schmidt fiber ihre Sfihne und vergleicht sie mit seiner Tochter: "'.. . so steckt sie meine beiden Jungen in die Tasche. Mit Otto ist nicht viel, und mit Leopold ist gar nichts'" (Jenny, S. 142). Noch am selben Abend hdrt Jenny von der Verlobung Leopolds. Die eben gepriesene Corinna wird nun zur Todfeindin, “'denn die Treibels wachsen nicht auf den Baumen und konnen nicht von jedem, der vorbeigeht, heruntergeschfittelt werden'" (Jenny, S. 145). Corinna muB Leopold ver- ffihrt haben, nur so kann sie sich die Sachlage erklaren: "'DaB du verffihrt bist, entschuldigt dich nur halb'" (Jenny, S. 146). Auf die Bemerkung ihres Mannes, daB zwischen Schmidt und Bfirstenbinder kein groBer Unterschied ware, reagiert sie ungehalten. Gerade diese Erinnerung an den gemeinsamen Ursprung aus der AdlerstraBe spornt sie an, sich dieser Vereinigung mit allen Kraften zur Wehr zu setzen, denn dies ware wie ein Schritt zurfick in den Apfelsinenkistenladen. Ffir sie wird Corinna plfitzlich zur Reprasentantin des Proletariats und nicht Mitglied der gehobenen Bildungsbfirgerschicht. Jenny rfistet sich zum Kampf: ehemalige Freundschaften sind vergessen, und Corinna ist ffir sie eine "'gefahr- liche Person, die vor nichts erschrickt und dabei ein SelbstbewuBtsein hat, daB man drei Prinzessinnen damit ausstaffieren kfinnte, gegen die mfissen wir uns rfisten'" (Jenny, S. 155). Ffir Jenny steht fest, daB sie den Vater dieser "gefahrlichen Person" auf ihre Seite bringen muB. Durch sie erfahrt Wilibald Schmidt von den Verlobungsplanen seiner Tochter. Jenny ist voller Entrfistung gegenfiber diesem Affront; Schmidt hat gemischte Geffihle, da er sich Leopold beim besten Willen nicht als zukfinftigen Schwiegersohn ausmalen kann: 66 Er sah, daB er sich in seiner alten Freundin nicht ge- tauscht hatte, daB sie, vfillig unverandert, die, trotz Lyrik und Hochgeffihle, ganz ausschlieBlich auf Auber- lichkeiten gestellte Jenny Bfirstenbinder von ehedem war, und daB seinerseits, unter selbstverstandlicher Wahrung artigster Formen und anscheinend vollen Entgegenkommens, ein Ton superioren Obermutes angeschlagen .. . werden mfisse (Jenny, S. 158). Jenny beschuldigt Corinna, ihren "armen Jungen" willenlos gemacht zu haben, um ihn ffir sich zu gewinnen, alles aus "Obermut" und "Eigen- sinn", eine Beobachtung, in der die Kommerzienratin nicht einmal unrecht hat. Die Auseinandersetzung endet damit, daB Jenny gruBlos das Haus ihres alten Freundes verlaBt, ohne Corinna von ihrem Vorhaben abgebracht zu haben. Wilibald Schmidt, selber durch die ganze Aufruhr auBer Fassung geraten, spricht den markanten Satz: "'Corinna, wenn ich nicht Professor ware, so wfird ich am Ende Sozialdemokrat'" (Jenny, S. 163). Frau Schmolke stellt an Corinna die logische und nfichterne Frage: "'Liebst du'n denn noch immer?'" (Jenny, S. 173). Darauf antwortet Corinna abrupt: "'Ach, ich denke ja gar nicht dran, liebe Schmolke'" (Jenny, S. 173). Daraus zieht Frau Schmolke die Folgerung: "'Denn wenn du ihn nicht liebst und ihr nich paBt, denn weiB ich nich, was die ganze Geschichte fiberhaupt noch soll'" (Jenny, S. 174). Dieser Logik kann Corinna nicht ausweichen, und sie schlieBt sich den Gedankengangen ihrer Haushalterin an: "'Ich auch nicht'" (Jenny, S. 174). Schmolke denkt aber schon einen Schritt weiter: "'Du muBt einen klugen Mann haben, einen, der eigentlich klfiger ist als du - du bist fibrigens gar nich mal so klug. ..'" (Jenny, S. 173). Jetzt wird Marcell Wedderkopp. Verwandter und vielversprechender Archaologen-Dozent, wieder akut. Wie mit Gideon Franke in Irrungen Wirrungen bietet Marcell eine Notlfisung des Dilemmas an. Hans-Heinrich 67 Reuter nennt ihn einen "Strohmann".8 Corinna kann zur Frau Professor avancieren und sich fiber die archaologischen Funde ihres Mannes freuen. Glficklich wird sie in diesen Umstanden bestimmt nicht, aber sie tut das, was ihr Vater ffir richtig halt. Eine bessere Lfisung ffir Corinna (bestimmt moderner) ware eine freie Entscheidung aus einem gestarkten SelbstbewuBtsein, ein Realisieren ihrer eigenen Potenz und Mfiglichkeiten. Auf die Frage Marcells, ob sie denn mit Leopold glficklich geworden ware, antwortet sie ihm: "Sieh, das mit dem Leopold, das ware vielleicht gegangen, warum am Ende nicht? Einen schwachen, guten, unbedeutenden Menschen zur Seite zu haben, kann sogar angenehm sein, kann einen Vorzug bedeuten.. .. Denn ich gehe davon aus, der Mensch in einem guten Bett und in guter Pflege kann eigent- lich viel ertragen" (Jenny, S. 185). Auf die Frage nach Liebe und Glfick in einer solchen Verbindung sagt sie offenherzig: "'. .. ich glaube auch nicht, dab ich sehr unglficklich geworden ware, das liegt nicht in mir, freilich auch wohl nicht sehr glficklich. Aber wer ist glficklich? Kennst du wen? Ich nicht'" (Jenny, S. 184). In diesem Sinn ist Corinna ein Kind ihrer Zeit; in den mensch- lichen Beziehungen dominiert die Suche nach Bequemlichkeit und Wohlstand. Schmolke, als Vertreterin des Proletariats, ist die einzige, die die Frage nach der Liebe stellen darf; der Bourgeois zerbricht sich darfiber nicht mehr den Kopf. Geffihle werden nicht mit einkalkuliert. In diesem Zusammenhang gesehen, gewinnt die letzte Zeile in Jennys Lieblingslied besondere ironische Bedeutung: "Wb sich Herz zum Herzen find’t" (Jenny, S. 49). Die Herzen finden sich nur in geffihlsvollen Gedichten. In Wirklichkeit gibt es so etwas nicht mehr. Im Bild der Heirat von Marcell und Corinna konstruiert Fontane eine kfinstliche Synthese. Alle involvierten Partien kfinnen sich bei einem 68 Festessen wieder versfihnen. Und Krola hat die Gelegenheit, das Lieb- lingslied Jennys noch einmal vorzutragen. Fontane laBt das geschehen, um zum Ausklang des Romans erneut den Kontrast von Schein und Sein vor Augen zu ffihren. Die Schlquorte spricht Wilibald Schmidt. Berauscht von den Hochzeitsgetranken scheint er die Sachlage nfichterner zu sehen und gibt damit der Konstellation eine nihilistische Wende: "'Geld ist Unsinn, Wissenschaft ist Unsinn, alles ist Unsinn. Professor auch'" (Jenny, S. 191). Das Ganze beschreibt keine "liebevolle Narrenwelt" - ein Urteil, das man haufig in der Fontane-Literatur fiber Frau Jenny Treibel vorfindet. Peter Demetz nennt den Roman eine "versdhnlich gestimmte Komfidie des 'Grfinder-Parvenfi.'"9 Reuter beschreibt Fontanes Absicht wohl glaubwfir- diger: "Die Grundhaltung des Dichters ist eine jetzt bis zu Eiseskalte gesteigerte Distanz, wie sie nur dort mdglich ist, wo man nie geliebt hat. Selbst HaB vermochte in dieser Kalte nicht zu gedeihen."1° Auf allen Seiten herrscht grenzenloser Egoismus. Die Vertreter von Besitz und Bildung sind hauptsachlich daran interessiert, ihre eigene Grundhaltung fortzupflanzen. Ffir einen Augenblick hatte Corinna die Wahl zwischen diesen zwei Mfiglichkeiten. Beide erscheinen ihr nicht sehr attraktiv, beide nicht erstrebenswert. Die wahre Tragik liegt in der Tatsache, daB es ffir sie keinen Ausweg, keine Alternative gibt. "Die 'Gesellschaft' ist ein Scheusal", sagt Fontane selbst.11 Es besteht kein Zweifel, daB Fontane seiner Tochter Mete im Charakter Corinnas ein Denkmal setzt. In seiner Korrespondenz mit Paul Schlenther nennt er seine Tochter einmal absichtlich oder aus Versehen "Corinna".12 Mit ihr, die erst sehr spat heiratete, besprach und teilte Fontane im spaten Alter sehr viele seiner persfinlichsten Gedanken.13 In einem 69 Brief vom 10. September 1878 an seine Frau schreibt er: Das Thema "Mete" ist unerschfipflich; so viel hat sie wenigstens erreicht.. .. Irgendwas Absonderliches spukt ihr in Schlaraffentagen immer in Kopf und Leber. . und so kommt man mit ihr nicht zu Rande. Sie ist mir eine bestandige psychologische Aufgabe. Wenn es das Kriterium genialischer Naturen ist, daB Aller- klfigstes und Allerdfimmstes bei ihnen dicht beieinander liegen, so ist sie ein Hauptgenie. Sie abends beim Tee perorieren zu hfiren, oft fiber die schwierigsten und sublimsten Themata, ist ein HochgenuB; sie sagt dann Sachen, die mich absolut in Erstaunen setzen; alles Tiefblick und Weisheit; Salomon Cadet. Aber dies dauert nur so lange, wie sich's ums Allgemeine handelt, will sagen so lange, wie ihre Person auBer Spiele bleibt; von dem Augenblick an, wo diese mit hineingezogen wird, wird sie ein Kind, ein Quack, und ihre Deduktionen, die nun plfitzlich aus dem Scharfen ins bloB Kniffliche und Advokatische umschlagen, werden zu verdrieBlich machenden Quasseleien. Das hatte Wilibald Schmidt von seiner Tochter sagen kfinnen. Die offenbare Identitat der Auffassungen ffihrt uns zu der interessanten Folgerung: Wie viel Selbstironie hat Fontane in den Professor hineingebaut? In einem Brief vom 25. Januar 1894 an die Tochter heiBt es: "Ohne einen feinen Beisatz von Selbstironie ist jeder Mensch mehr oder weniger ungenieBbar. Daher giebt es so viele UngenieBbare." Und Fontane hielt sich selbst bestimmt nicht ffir ungenieBbar. 7O Mdthilde Mathilde Mdhring und Jenny Treibel verbindet der Ehrgeiz, sich durch eine Heirat aus ihrem Milieu zu befreien und damit in eine hfihere Bfirgerschicht aufzusteigen. Um diesen Ehrgeiz glaubwfirdig zu gestalten, steigert Fontane die Intensitat seiner Milieuschilderung. Die bedrfik— kende Enge und die sozial-fikonomische Hoffnungslosigkeit, welche in der Atmosphere der unteren Schicht des Bfirgertums anhaften, kommen hier zu voller Entfaltung. Waren die niederen Verhaltnisse in Irrungen Wirrungen und Stine noch als ertragbar oder in manchen Stellen sogar als idyllisch portratiert, so werden sie jetzt zu unertraglichen Gegebenheiten. Mit Jenny Treibels Drang nach Hfiherem laBt sich nur schwer sympathisieren, denn die Umstande in dem kleinen Laden in der AdlerstraBe bleiben unbe- kannt. In MdthiZde Mehring dagegen beschreibt Fontane im Detail die deprimierenden Verhaltnisse der modrigen Mietwohnung in der Georgen- straBe, wo Mutter und Tochter unter den karglichsten Bedingungen ihr eintdniges Leben ertragen. Weit entfernt sind die Gesellschaftskreise, wo Dinner und Landpartien das Obliche ausmachen. Es fehlt der ironische Ton, der sich so oft in Fontanes Beschreibungen der mittleren Klassen findet. Die the und Bestrebungen des kleinen Volkes werden hier grell beleuchtet. Es ist nicht ganz verstandlich, warum Demetz von Fontane Folgendes sagt: Der Kfinstler Fontane hat seine echte Heimat nur dort, wo man einen 'Chablis' von einem 'Pommard' unterscheiden kann; dort, wo man seine Mahlzeiten mit ererbten schweren Silber- gabeln zum Munde ffihrt. Sobald er sich den bescheideneren bfirgerlichen Spharen nahert, wird Fontane zum Humoristen 71 (das trfibe Bfirgerliche bedarf offenbar des verklarenden Humors) oder er attackiert das Vulgare, schonungslos und ohne Rficksicht.1“ Diese These erweist sich bei der Analyse von Irrungen Wirrungen, Stine oder Mdthilde Mdhring als problematisch, wo kleinbfirgerliche Figuren in ihrem Milieu zum Hauptgegenstand des Erzahlens werden; sie dienen zur Provokation und zur Konfrontation ffir die oberen Schichten. Deren Normen und Werte offenbaren somit ihre Fragwfirdigkeit. Ffir Mathilde gilt nur eins: aus der kleinbfirgerlichen Enge heraus- zukommen; auf welche Weise, ist ihr egal. Mathilde hat nichts von den fiblichen asthetischen Attributen, die man von einer Frauengestalt in einem Roman des 19. Jahrhunderts erwarten sollte. Sie ist nicht einmal sympathisch, denn es fehlt ihr die menschliche Wfirme, die Lenen liebens- wert macht; daffir ist Mathilde zu berechnend. Sie hat nicht den Charm von Corinna, nichts von Céciles rfihrender, weiblicher, erregender Hilf- losigkeit, auch nicht das gute Aussehen, mit dem Fontane die meisten seiner Romanheldinnen ausgestattet hat. Mathildes Energie jedoch, mit der sie sich aus ihrem Milieu befreien will und mit der sie ihre Vor- gangerinnen in den Schatten stellt, fasziniert. Mathilde benutzt die Ehe nur als Mittel, um damit an ihr Ziel zu kommen; sie ist energisch und aggressiv. Werner Hoffmeister nennt Mathilde einen "underdog", der "dem konservativen und gut-bfirgerlichen Leser unangenehm, moralisch zweideutig oder gar bedrohlich" erscheint.15 Fontane macht die Figur mit Absicht unattraktiv, um alle subjektiven Sympathien auszuschlieBen. Sie erinnert an eine weibliche Gestalt Bertholt Brechts oder Gerhart Hauptmanns. Hans-Heinrich Reuter schreibt Mathilde "mannliche" Ent— schlossenheit, "mannliches" Selbstvertrauen und "mannliche" Klugheit zu.16 Sie hat jedenfalls nichts von dem koketten Evatum einer Corinna, 72 die charmant den Mannern alles abverlangt, sondern nur den eisernen Willen zur Emanzipation. In der deutschen Literaturkritik war Mdthilde Mehring ffir lange Zeit ein Stiefkind. Erst 1971 hat der DDR-Germanist Gotthard Erler aus dem Nachlanerk eine authentische Ausgabe besorgt.l7 Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir Fontanes postumes Werk in hfichst dubioser Gestalt vorliegen. Im Jahre 1891 machte Fontane die erste Niederschrift, kam aber wegen Krankheit und der Arbeit an seiner Autobiographie und an SteehZin nicht zur Korrektur seines Werkes. Ettlinger fand den Roman im NachlaB und nahm selbstandig eine Korrektur vor. Im Jahre 1906 erschien die revidierte Version in den November und Dezember Ausgaben der Gartenlaube. ware die Ettlinger-Ausgabe dem Geiste Fontanes gerecht geworden, ware an den Intentionen Ettlingers nichts einzuwenden. Doch Gotthard Erler zeigt, daB er sich zu mehr als nur kleinen Verbesserungen hat hinreiBen lassen: . er hat auch dort "nachgebessert", wo er, oft ohne zwin- gende Notwendigkeit, in das Wort und Stilgeffige eines vom Autor eben noch nicht ffir druckreif erklarten Werkes ein- greifen muBte.. .. Manches hielt er wohl schlechtweg ffir anstdBig: die Bemerkung fiber Thildens Teint oder die aus- ffihrlich geschilderte "Operation" der Frau Leutnant Peter- mann, die (wie es Emilie Fontane in jfingeren Jahren gern tat) mit einer Stopfnadel in ihrem abgebrochenen Zahn herumpolkt. SchlieBlich eliminierte Ettlinger sogar einige kleine Szenen und fiberschritt damit eindeutig die Schwelle zur bewuBten Falschung.18 Eine der wichtigsten kleinen Szenen, welche von Josef Ettlinger ausge- lassen wurde, steht am Ende des 17. Kapitels (alle Ausgaben vor Erler haben keine Kapiteleinteilung) kurz vor Ende des Romans. Nach Hugos Tod sitzen Mutter Mfihring und Mathilde zusammen und besprechen die Tatsache, daB Mathilde kein Kind von Hugo hat. Die Ettlinger-Ausgabe endet damit, daB die Mutter meint: "'.. . es ware doch hfibsch und 73« besonders ffir dich, wenn es anders gekommen ware.”19 Damit hat Fontane die Szene nicht geendet. In der Erler-Ausgabe steht: ".. . es ware doch hfibsch und auch besonders ffir dich, wenn du ihn [ein Kind aus der Ehe mit Hugo] einbuschen kfinntest. Freilich, Rechnungsrats schlafen grade unter uns, und die wfirden wohl raufschicken und sagen, wir sollten nicht so viel hin und her wiegen, denn die denken, drei Treppen hoch ist so gut wie gar nichts." "So is es, Thilde. .Arme Leute. .." ". .. mfissen sich alles versagen.“ ".. . Un sollen nich mal buschen. Ach, die Menschheit is zu schlecht, und ich erleb es auch nich mehr."2° Diese sozialkritische Note paBte nicht in das Wilhelminisch-PreuBische Konzept eines Josef Ettlingers, und so wurde sie gestrichen. LaBt man sie aber im Werk, rfickt der Roman in ein ganz anderes Licht. Man sieht Mathilde von einer ganz anderen Perspektive. Ein Fontane-Wissenschaftler wie Conrad Wandrey sagt: ".. . die starke Wirkung, die von der Gestalt der Mathilde ausgeht, beruht auf diesem unbewuBten Tfichtigsein, dieser ahnungslosen Obereinstimmung mit der sittlichen Gesetzlichkeit der fontanischen Welt."21 Es ware interessant zu wissen, ob Wandrey diesen Satz nach einem Studium der vollstandigen Ausgabe von Mdthile Mehring gelten lieBe. Obwohl Erlers Ausgabe als die kritische Ausgabe gelten muB, werden der Form halber alle Textstellen ffir die folgende Interpre- tation aus der Nymphenburger Ausgabe entnommen. Mathildes Vater, Buchhalter in einem Tuchexportgeschaft, starb zur Zeit ihrer Einsegnung. Seine letzten Worte an sie waren: "'Mathilde, halte dich propper'" und "'Stillstand ist Rfickschritt'" (MdthiZde, S. 7 und 62). Wegen finanzieller Schwierigkeiten mfissen die Mfihrings die Mietwohnung, die kaum ihren eigenen Bedfirfnissen ausreicht, mit Unter- mietern teilen. Um zu existieren muB gespart werden. Nichts dfirfen sie sich gfinnen; eine Tasse Kaffee, Setzeier mit Bratkartoffeln sind Hfihe- punkte und bedeuten beinahe Luxus. Frau Mb’hring, die "Mutter aus dem 74 Volk" (Mdthilde, S. 27), lebt in standiger Sorge, diese Existenz auch noch verlieren zu kfinnen. Das Bchhen, was sie haben, kfinnte sich verringern: kein Dach mehr fiber dem Kopf zu haben, die Mfiglichkeit, ins Armenhaus zu kommen, sind Angste, die sie standig begleiten. Mathilde ist aggressiver als ihre Mutter, sie weiB, daB sie durch Arbeit sich fiber Wasser halten kann und nicht in die unterste Volksschicht absinken wird. "'. .. man muB sich nicht so klein machen, dann machen einen die Leute immer noch kleiner'" (Mdthilde, S. 55) ist ihre Lebens- einstellung. Rechnungsrat Schultze, bei dem sie zur Miete wohnen, sagt von ihr: "'. .. immer fleiBig und grUBt sehr artig, ein sehr gebildetes Madchen'" (Mdthilde, S. 8). Fontane beschreibt sie weiter: . Mathildchen war jetzt eine richtige Mathilde von drei— undzwanzig Jahren. Das heiBt, eine so ganz richtige Mathilde war sie doch nicht, dazu war sie zu hager und hatte einen etwas griesen Teint, und auch das aschblonde Haar, das sie hatte, paBte nicht recht zu einer Mathilde. Nur das Um- sichtige, das FleiBige, das Praktische, das paBte zu dem Namen, den sie ffihrte. . .. sie war sauber, gut gekleidet und von energischem Ausdruck, aber ganz ohne Reiz. nicht recht zum AnbeiBen. .. (Mdthilde, S. 8-9). Mathilde macht sich fiber sich selbst keine Illusionen, bestarkt sich aber rfickblickend an dem Urteil eines Keglers, den sie einmal fiberhbrte, als er von ihr sagte: "'Sie hat ein Gemmengesicht'" (Mdthilde, S. 9). Von da an wuBte sie, daB ihr Profil ihre Starke war; durch Blicke in den Spiegel bestatigte sie selbst diese Einschatzungen: Aber mit dem edlen Profil schloB es auch ab: die dfinnen Lippen, das sparlich angeklebte aschblonde Haar, das zu klein gebliebene 0hr, daran allerhand zu fehlen schien, alles nahm dem Ganzen jeden sinnlichen Zauber, und am nfichternsten wirkten die wasserblauen Augen. Sie hatten einen Glanz, aber einen ganz prosaischen, und wenn man frfiher von einem Silberblick sprach, so konnte man hier von einem Blechblick Sprechen. Ihre Chancen auf Liebe waren nicht groB, wenn sich nicht jemand fand, dem das Profil fiber alles ging (Mdthilde, S. 9). Keine frfihere weibliche Romanfigur wurde von Fontane bis in diese Details 75 beschrieben. Die nfichternen Augen sehen eine illusionslose Welt, das feuchte aschblonde Haar verrat konstante Strebsamkeit, welche keine Zeit zu einer intensiven Kfirperpflege laBt. Als wieder einmal die taglichen Nfite sie dazu veranlassen, nach einem Untermieter Umschau zu halten, verirrt sich ein 26jahriger Jura- student, auf Zimmersuche, in die GeorgenstraBe. Das Auffallendste an ihm ist sein schwarzer Vollbart: "Etwas fiber mittelgroB, breitschultrig und fiberhaupt so recht das, was gewfihnliche Menschen einen schfinen Mann nennen" (Mdthilde, S. 10). Was dieser Mann auch immer an physischen Attributen aufzuweisen hat: es fehlt ihm an der notwendigen Lebens- energie. Mathilde, eine gute Psychologin und Menschenkennerin, hat dies sehr schnell erkannt. Auf die angstliche Frage ihrer Mutter, ob er denn nach der Wohnungsinspektion auch wiederkame und sich bei ihnen einmieten wfirde, antwortet Mathilde mit grfiBter Sicherheit, er kame wieder, "'weil er bequem is, weil er keinen Muck hat, weil er ein Schlappier is'" (Mdthilde, S. 13). Mathilde behalt recht; Hugo, ein etwas verbummelter Jurastudent, mietet sich bei den M6hrings sein: "'.. . der bleibt nicht bloB, der bleibt auch lange, denn sehr anstrengen wird er sich nicht, er sieht so recht aus: "Kommst du heute nicht, so kommst du morgen", und vielleicht morgen auch noch nicht'" (Mdthilde, S. 16). Hugo ist schwach und bequem, bei ihm haben sich die Energien der Mittelklasse schon erschfipft. Sein Lebensinhalt ist ein zielloses Studium, welches den Eltern zuliebe betrieben wird, und ein talentloses Streben nach der Kunst. Erfolg in dem einen oder anderen zu haben, ist ffir ihn hoffnungslos. Diese Voraussetzungen schlieBen ein aktives Mitwirken in der Gesellschaft aus. Dieser willenlose Mensch kommt in den Bann der 76 willensstarken Mathilde. An Masern erkrankt, wird Hugo pflegebedfirftig. Dieses Gepflegt-werden liegt ihm sehr, und so ist er glficklich. Er fangt an, die tfichtige Pflegerin aus einer ganz anderen, besseren Per— spektive zu sehen: Es ist ein merkwfirdiges Madchen, grfibelte er, nicht eigent- lich schon, wenn man sie nicht zufallig im Profil sieht, aber klug und tapfer, ich mochte sagen, ein echtes deutsches Madchen, charaktervoll, ein Wesen, das jeden glficklich machen muB, und von einer groBen Innerlichkeit, geistig und moralisch (MdthiZde, S. 40). wahrend seiner Rekonvalenzzeit wachst bei ihm der Gedanke, dieses Gepflegt-werden auf Lebenszeit zu verlangern. Er will sie zu seiner Frau machen: "Sie hatte gerade das, was ihm fehlte, war quick, findig, praktisch" (Mdthilde, S. 40). DaB sie ihn nehmen wird, weiB er: "Denn schlieBlich war er doch immer ein Bfirgermeistersohn, wahrend Thilde - soviel sah er wohl - auf Geburtsstolz verzichten muBte" (Mdthilde, S. 40-41). Mathilde antwortet nicht mit der gewfinschten Raschheit auf sein Eheangebot, erst nach einem erneuerten Fragen antwortet sie: "'Nun denn, - also ja. Obwohl es noch lange dauern wird, bis es dahin kommen kann. .."' (Mdthilde, S. 41). Sie hat aber schon die Plane ffir ihren kfinftigen Ehemann geschmiedet: "'Alles, meine ich, muB seinen Zweck haben. Ich rechne darauf, daB du mir durch Arbeit den Beweis deiner Liebe gibst. Erst das Examen. Das andere findet sich. Daffir will ich schon sorgen. .."' (Mdthilde, S. 42). Diese Worte mfissen nicht ganz his in sein Gemfit gedrungen sein, denn "er wollte sie, vielleicht in unklarer Vorstellung von Brautigamsrecht und -pflicht, festhalten und einen Sturm auf ihre schmalen Lippen versuchen, aber sie entwand sich ihm sanft" (Mdthilde, S. 42). 77 Thildes Mutter ist anfanglich von den Verlobungsplanen ihrer Tochter bestfirzt. Ihre Reaktion ist die Furcht einer Frau, die sich plfitzlich von allen Mitteln entblfiBt sieht: "'Jott, was soll nu aus mir werden?'" (Mdthilde, S. 42). Auf die Frage, ob Hugo denn etwas habe, antwortet Mathilde: "'Noch nicht, Mutter. Aber wenn ich ihn bloB erst habe, so richtig verlobt vor Gott und Menschen, dann wird es schon werden. Er sieht ja doch aus wie auf der Kanzel, und so einer kommt immer an. Ich werde ihn schon anbringen'" (Mdthilde, S. 42). Sie hat die Werte ihres Verlobten voll auskalkuliert; sie muB ihn nur unter Kontrolle bringen, damit die von ihr geschmiedeten Plane ver- wirklicht werden kfinnen. Aber sie kann nicht nur Arbeit von ihm ver- langen; er muB auch ffir seine Anstrengungen belohnt werden: Wenn ffir sie feststand, daB sie Hugo zu trainieren habe, so stand auch ebenso fest, daB sie so was wie Zuckerbrot be- standig in Reserve haben mfisse, um Hugo bei Lust und Liebe zu erhalten.. .. Oberhaupt nur nichts Gewaltsames, nur nichts Obereiltes, alles mit Erholungspausen (Mdthilde, S. 51). Die Frage nach Thildens Hand war das letzte Selbststandige, was Hugo in seinem Leben getan hat. Von nun an ffihrt sie Regie: Arbeitspausen nach vollendetem Pensum, kleine Vergnfigungen, um ihm eine Erholungspause in seinem Studium zum Jura-Examen zu gfinnen: Am Ende dieser Ferienwoche wollte sie dann mit der Prosa herausrficken unter Hinweis, daB ohne Durchffihrung ihres Programmes von Glfick und Zufriedenheit und fiberhaupt von einem Zustandekommen ihrer Ehe keine Rede sein kfinnte (Mdthilde, S. 51). Denkt man nun, daB Hugo unter diesen Umstanden leiden wfirde, ja vielleicht schon vor der Ehe unglficklich sei, irrt man sich: Hugo war wirklich glficklich. Er entdeckte Seiten an seiner Braut, die eine Perspektive auf ein hfiheres und feineres Glfick erfiffneten, als er an jenem Abend des ersten Gestand- nisses erwartet hatte. Was damals in ihm lebte, war eine 78 Dankbarkeit, war ein weiches, sentimentales Geffihl, in dem die vorangegangene Krankheit noch nachspukte. Jetzt schien es ihm, daB Thilde warmerer Geffihle fahig sei, vielleicht sogar einer Leidenschaft, und seine Brust hob sich (Mdthilde, S. 52). . Die einzige, die sich nicht ganz wohl ffihlt, ist die Mutter; sie kann sich einen erfolgreichen Hugo noch nicht vorstellen: "'Er is ja doch auch kein Studierter, er is ja bloB ein alter Student'" (Mdthilde, S. 57). Doch Mathilde weiB sie zu beruhigen und damit die standige Sorge um die finanzielle Lage zu verringern: "'. .. laB nur gut sein, wenn ich auch nicht viel aus ihm mache, so viel doch, daB ich ihn hei- raten kann und daB ich dir alle Monate was schicken kann und daB ich einen Titel habe'" (MdthiZde, S. 57). Sie hat ihren Weg geplant, sie will sich von dem unteren Milieu freimachen und in eine etabliertere Bfirgerschicht einsteigen. Ihre Aufwartefrau, die haBliche, einaugige Frau Runtschen, ist ihr ein Mahnmal, ein abschreckendes Gespenst der Angst ums Dasein, was geschehen kann, wenn man der untersten Schicht angehfirt. Sie legt groBen Wert darauf, dies ihrer Mutter auch klar zu machen und damit in ihr ein StandesbewuBtsein zu entwickeln: "Ich habe dir neulich gesagt, wir seien keine kleinen Leute, die Runtschens seien kleine Leute, und das is auch richtig, aber wenn du immer gleich so weimerst, dann sind wir auch kleine Leute. Wir mfissen nun doch ein bchhen forscher sein und so, was man sagt, einen guten Eindruck machen. .." (Mdthilde, S. 58). Thilde kann sich selbst emanzipieren, aber damit der Sprung in die hfihere soziale Schicht gelingt, muB auch die Mutter mit dem entsprechen- den KlassenbewuBtsein ausstaffiert werden. Die Heirat Hugos mit Mathilde ist eine Mesalliance: eine Verbindung zwischen der unteren Mittelklasse und der arrivierten Bfirgerschicht. Beide Partner erhoffen sich individuelle Vorteile; der Mann will ver- sorgt sein, und die Frau will durch die Institution der Ehe avancieren. 79 Die juristische Laufbahn ist eine Karriere, die Hugo am wenigsten liegt. Er lieBe sich am liebsten treiben, phantasievollen Gedanken nachhangend, sich kfinstlerisch betatigend, so lange er ohne groBe Anstrengungen durchs Leben kommt. Er weiB genau, daB Mathilde sein Leben kontrolliert, ffir ihn ist sie sein Anker, der ihn an der bfirgerlichen Welt festhalt. Der Gedanke, sich ganz ohne Halt durchs Leben zu bewegen, ist dem Bfirger- meistersohn ein grfiBerer Grund zur Besorgnis als die leitende Hand Mathildes: "Und dabei hat mich Thilde in Handen. Sie denkt, ich merke es nicht, aber ich merke es ganz gut. Ich lasse sie gehen, weil ich es so am besten finde. SchlieBlich ist man, was man ist, und wenn ich nur so leidlich bequem durchkomme. ..f' (Mdthilde, 5. 59-60). Nach der Verlobung fangt der Ernst des Lebens ffir Hugo an. Mathilde hat ihm ein Arbeitsprogram zurechtgelegt: ".. . du muBt nun endlich dein Examen machen und nicht immer die Bficher beiseite schieben und die 'Gespenster' lesen - was fibrigens, wie sein Titel schon ausdrfickt, ein grauliches Stfick ist -, dein Examen machen, sage ich, je eher, je lieber. Und von morgen ab wird angefangen. .." (Mathilde, s. 62). Der Hinweis auf Ibsen ist hier ironisch gemeint. Ibsen vertritt den Standpunkt der Liebesehe, welches Fontane den "Ibsenschen Eheblfidsinn" nennt.22 Die trockene Vernunftsehe von Hugo und Mathilde setzt einen Kontrapunkt zu den meisten Ibsen-Dramen. Mathilde, die geborene Padagogin, fibernimmt die Leitung in Hugos Studium; sie hfirt ihn ab durch Frage- und Antwortspiele, wfirzt die Paukerei mit Gesprachstoff von Theater, welches Hugos Lieblingsthema ist. Sie weiB genau, wieviel sie ihm zumuten darf, er lernt in Etappen. Hugos Fortschritte gehen schneller, als Thilde gedacht hatte, er besteht das Examen: "Er hatte zwar nur das Notdfirftigste gewuBt, es aber trotz- dem erzwungen. .." (MdthiZde, S. 65). Hugo ffihlt sich durch diesen 8O Erfolg erleichert, betrachtet die positive Seite seiner Allianz mit Thilde und glaubt, "doch vielleicht in seinem dunklen Drang das Rechte getroffen zu haben. GewiB, es waren einfache Menschen und etwas unter seinem Stand, aber doch gut und ordentlich zuverlassig. Und alles andere war ja nur Schein und Plattiertheit" (Mdthilde, S. 66). Er denkt auch an die negative Seite dieser Bindung: "Aber Kfissen ist nicht ihre Force. .. Nun, man kann nicht alles verlangen. .." (MdthiZde, S. 69). Auch seine Berufswahl gibt ihm zu denken, fast wfinschte er, "er ware durchgefallen, dann ware die ganze Qualerei vorbei" (Mdthilde, S. 68). Er sieht sich nicht ffir die Juristerei geschaffen, flirtet mit dem Gedanken, Bahnhofsvorstand zu werden, Gfiterinspizient oder sogar Tele- graphist, um nur nicht das Steife und Hfilzerne einer Juristenkarriere ertragen zu mfissen. Mathilde weiB, daB sie den Bogen nicht fiberspannen darf und besteht nicht auf Hugos Assessorexamen, sie denkt vielmehr an Heirat und liest Stellenannoncen. Ihre Anstrengungen zahlen sich aus: eine kleine westpreuBische Stadt sucht einen Bfirgermeister. Frau Bfirgermeisterin zu werden, bedeutet ffir Mathilde die Erffillung ihres Strebens. Hugo wird nach Woldenstein geschickt, um sich vorzustellen. Er macht einen guten Eindruck und gewinnt die Stellung. Die Hochzeit wird gefeiert und das neue Paar siedelt sich in Woldenstein an. Als gute Psychologin versteht Mathilde, daB Hugo jetzt mehr als zuvor ihre Unterstfitzung braucht. Er hat zwar die Stellung, aber noch nicht das dazugehfirige Auftreten, welches aus einem Geffihl der Ober- legenheit entsteht, wie es ein richtiger Bfirgermeister haben sollte. Sie muB versuchen, seiner Unsicherheit Herr zu werden: "'Du bist bloB zu angstlich, du hast kein Vertrauen zu dir, du denkst immer, die andern sind wunder wie klug und verstehen alles besser. Wenn man 81 Bfirgermeister ist, dann muB man so was aufgeben'" (Mdthilde, S. 77). Sie regt ihn an, seinen Tfitigkeitskreis zu erweitern, Innovation ffir das Stadtchen zu planen, und fiberhaupt praktisch zu denken, etwas, was ihm besonders schwerfallt; denn, wie sie zu ihm sagt: "'Du bist immer wie halb im Traum, Hugo'" (MdthiZde, S. 77). Ihre Energien beschranken sich nicht nur auf Hugo, sondern greifen fiber auf die kleine Stadt. Je grfiBer Woldenstein wird, je grfiBer wird ihre soziale Stellung. Militar will sich in der Stadt ansiedeln. Dazu muB eine Garnison gebaut werden. Das wird die Finanzen der ganzen Gemeide auffrischen: "'Die ganze Backerei und Schlachterei kommt auf einen andern FuB. und Woldenstein hfirt auf, ein Nest zu sein, und wird eine Stadt.. .'" (MdthiZde, S. 78). wahrenddessen verliert Mathilde Kontakt zu ihrer Herkunft. Die Mutter wird nicht zu Weihnachten eingeladen, weil sie sich ihrer schamen mfiBte: "'Wir sind doch hier das, was man in Bfichern und Zeitungen die oberen Zehntausend nennt, obschon Woldenstein erst dreitausendffinfhundert Einwohner hat.. .'" (Mdthilde, S. 84). Dies ist wohl der kaltblfitig- berechnende Zug in Mathildens Persfinlichkeit, der sie die meisten Sympa— thien kostet. Das Verleugnen ihrer Mutter vergibt der Leser ihr nicht. Doch die Bfirger von Woldenstein sind von ihr begeistert, besonders die Manner, denen sie mit ihrem Wissen und ihrer Sicherheit imponiert. Sie verdient das grfiBte Kompliment, welches man einem AuBenseiter gibt: "'Sie hat entschieden was von unsern Leuten'" (MdthiZde, S. 83). Steigt Mathildes Ansehen im Romanverlauf, so sinkt Hugos Gesundheit parallel dazu. Eine nicht ausgeheilte Lungenentzfindung ffihrt zur Schwind- sucht. Er ist sich seines baldigen Todes gewiB und ruft Thilde an sein Bett, um sich bei ihr ffir ihre Tfichtigkeit und Pflege zu bedanken: ".. . und er sah langst in Thilde nichts mehr als die rfihrige, kraftige 82 Natur, die sein Leben bestimmt und das bchhen, was er war, durch ihre Kraft und Umsicht aus ihm gemacht hatte" (Mdthilde, S. 94). Der Tod Hugos lfist bei Mathilde keinen wahrnehmbaren Schmerz aus. Als nfichterner Tatsachenmensch, der sie ist, bereitet sie ihre Rfickkehr in die mfitterliche Wohnung vor. Ein altlicher Adliger fordert sie auf, bei ihm als Hausdame zu fungieren. Sie lehnt diesen etwas zwielichtigen Antrag entschieden ab. Mit gestarktem Willen kehrt sie in ihre gesell- schaftliche Ausgangsposition zurfick. Diesmal will sie es alleine schaffen, denn wahre Emanzipation war durch die Ehe nicht zu erreichen: Jetzt, wo sie sich nach einem kurzen Erfolg auf die Stufe zurfickversetzt sah, von der sie ausgegangen war, fand sie sich auch darin zurecht und nahm ihr altes Leben ohne jede weitlaufige Betrachtung und jedenfalls ohne Klage darfiber wieder auf (Mdthilde, S. 100). Obwohl sie wegen des Todes ihres Mannes keine Trauer tragt, hat Hugo doch einen Eindruck bei ihr hinterlassen: Ich dachte wunder, was ich aus ihm gemacht hfitte, und nun finde ich, daB er mehr EinfluB auf mich gehabt hat als ich auf ihn. Rechnen werde ich wohl immer, das steckt wohl drin, aber nicht zu scharf, und will hilfreich sein und ffir die Runtschen sorgen. .. (Mdthilde, S. 99). Mathilde sfihnt sich mit ihrer Vergangenheit aus; sie hat keine Angst mehr vor sozialem Abgleiten und kann sich mit einem gesteigerten, doch gelauterten SelbstbewuBtsein auf eine eigene Karriere konzentrieren. Sie wird das, was sie intuitiv schon immer war: Lehrerin. Sie besteht das Examen "weit glanzender .. . als Hugo damals das seine" (Mdthilde, S. 104). Es ist ein Ratsel, warum viele Interpreten diesen nochmaligen Anfang als ein "Scheitern des sozialen Aufstiegsversuches" ansehen.23 Sogar Lukacs spricht von dem Roman als einer Satire und betrachtet den Tod Hugos als "Deus ex machina", als ob Mathilde ffir GrfiBenwahn damit bestraft werden sollte.2” 83 Der Roman ist keine Milieustudie, daffir gibt es zu wenig klar gezeichnete Figuren, sondern er ist die Entwicklungsgeschichte einer modernen Frau. Nicht umsonst gab Fontane seiner Mathilde eine "Cécile"- Alternative. Hausdame bei Graf Goschen ware ein guter Sprung nach oben gewesen, sie ware damit allen weiteren Sorgen um eine finanzielle Sicherheit aus dem Wege gegangen. Bei Mathilde dreht es sich zum SchluB nicht mehr um diese Sicherheit, die sie a la Cécile als Hofdame des alten Grafen oder a la Pittelkow als Matresse hatte erwerben kfinnen, sondern um ihren eigenen Status innerhalb der Gesellschaft. Es geht im Roman um ein Erwachen zu Individualitat, um ein Aufhfiren der Frau, nur Spielzeug zu sein. Hans-Heinrich Reuter, bisweilen ambivalent in seiner Einstellung zu Mdthilde Mdhring, gibt ihr zum SchluB doch ein gutes Zeugnis: Alle aktiven Impulse sind auf die Frau fibergegangen. An die Stelle der Kritik an Schopenhauer ist die Wider- legung getreten. Keine der groBen Frauengestalten des Dichters besitzt so viele in die Zukunft weisende Zfige wie Mathilde: im Positiven wie im Fragwfirdigen.25 Mathilde hat gelernt, die bfirgerlichen Werte objektiv auszuwerten, nicht subjektiv wie ihre Vorgangerin Jenny Treibel. Selbststandig muB der Aufstieg erworben werden, ohne daB die Frau ein Anhangsel eines erfolg- reichen Mannes zu sein braucht. Fontane laBt uns darfiber keine Zweifel: Mathilde wird nicht wieder heiraten. Von Anfang an ist sie so gestaltet, daB sie ohne Persfinlichkeitsverlust in Emotionalitat ihr Leben bewuBt selber gestaltet; sie ist die treibende Kraft in der Ehe und sieht die Probleme und die nbtigen Lfisungen. Sie wird nicht in die fibliche Ehe- erwartung einer Ehefrau gegenfiber eingefangen. Ihr Charakter leidet keinen Bruch beim Tod ihres Mannes, da sie auch von ihm emotionelle Distanz bewahrt. Nur Vernunftsehe zweck sozialen Aufstieges. Springbrett 84 zur tatsachlichen Emanzipation. Sie ist Kombinationsfigur von Lene und Pittelkow. III. L'ADULTERA Melanie Das zweite Kapitel dieser Arbeit konzentrierte sich auf die Problematik der Ehen zwischen Vertretern verschiedener sozialer Schichten, in denen die Frage nach einem persfinlichen Glfick nie gestellt wird und deren Existenz nur auf wirtschaftlichen und sozialen Bedingtheiten beruht. Der Ausbruch aus einer solchen lieblosen Ehegemeinschaft soll das Thema des dritten Kapitels sein. Zwei Frauen mit verschiedenen Motivationen begehen Ehebruch und zwar einen von der 'handfesten' Sorte, d.h. mit allen Konsequenzen. Melanie van der Straaten besteht auf ein Recht auf persdnliches Glfick. Sie laBt sich aus Opposition gegen alle gesellschaftlichen Regeln scheiden und glaubt, innerhalb einer neuen Ehegemeinschaft, auf persfinliche Erffillung hoffen zu dfirfen. Ein solches "Happy End" ist Effi Briest nicht beschert: ihr Vergehen endet in Isolierung, Dahinsiechen und Tod. Das Wort "BuBe und bfiBen" wurde haufig von der Literaturkritik in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts benutzt, fallt aber in “modernen" Interpretationen ganzlich weg. Es bleibt die Frage, warum ffir die eine Frau der "Schritt vom Wege" ohne endgfiltige ge- sellschaftliche Verdammung gelingt, wahrend ffir die andere die Kon- sequenzen tfidlich verlaufen. Reuter stellt die gleiche Frage und formuliert eine fiberzeugende Antwort: 85 86 Der bfirgerlichen Frauengestalt gewahrt Fontane das, was er seinen Victorias und Cecilés, seinen Christinen und Effis verweigern muBte: die freie Entscheidung. Die Aktivitat Melanie van der Straatens ist ungleich starker und bewuBter als die ihrer adligen Schwestern: sie geht den Weg, und zwar allein, der ihnen versperrt bleibt.1 Spater im Text faBt er die Thematik der verschiedenen Frauenkategorien zusammen: "So wie er im Leiden der adligen Frauengestalt die feu- dale Welt fiberhaupt kritisierte, so wurde ihm das Hdndeln der bfirgerlichen Frauengestalt zum Ausdruck bourgeoiser Lebenstfichtig- keit schlechthin."2 Effi ist das Produkt markischen Adels; Melanie kommt aus der gehobenen calvinistisch-bfirgerlichen Sphare der Schweiz. Beide Frauen werden in sehr frfihem Alter an erfolgreiche, altere Manner verheiratet, beide finden in dieser arrangierten Ehe kein Glfick. Beide suchen eine persfinliche Alternative in einer auBerehe- lichen Beziehung, und ffir beide ffihrt das zu einer wesentlichen Ver- anderung ihres Lebens. Zwischen der Gestaltung von Melanie und Effi liegen ungefahr vierzehn Jahre. L'AddZtera wurde der erste der Berliner "Frauenromane", wahrend Effi Briest, welcher Berlin nur teilweise zum Handlungsort hat, der letzte ist. Die Inspiration ffir Gestaltungen der beiden Frauen- schicksale kam ffir Fontane aus dem aktuellen Berliner Leben, aus Tageszeitung und aus kontemporaren gesellschaftlichen Skandalgeschichten. Melanies Vorbild war eine Therese Ravené, die Frau eines Berliner GroBindustriellen, die Ende 1874 mit einem Kfinigsberger Bankier namens Gustav Simon entfloh, den sie zwei Jahre darauf heiratete. Da dieser Fall in der Gesellschaft viel Aufsehen erregte, schuldigte man Fontane an, eine Indiskretion begangen zu haben. Man glaubte in Melanie van der Straaten nur zu deutlich die Zfige der Therese Ravené wiederzuerkennen. Lange nach der Verfiffentlichung seines Romans nahm 87 Fontane in einem Brief vom 27. April 1894 an Joseph Viktor Widmann dazu Stellung: Ich habe das Ravenesche Haus nie betreten, habe die schfine junge Frau nur einmal in einer Theaterloge, den Mann nur einmal in einer Londoner Gesellschaft und den Liebhaber (einen Assessor Simon) fiberhaupt nie gesehn. Ich denke, in solchem Falle hat ein Schriftsteller das Recht, ein Lied zu singen, das die Spatzen auf dem Dache zwitschern. Verwunderlich war nur, daB auch in bezug auf die Nebenper- sonen alles, in geradezu lacherlicher Weise, genau zutraf. Aber das erklart sich wohl so, daB vieles in unsrem gesell- schaftlichen Leben so typisch ist, daB man, bei Kenntnis des Allgemeinzustandes, auch das Einzelne mit Notwendigkeit treffen muB. Hier haben wir die Intention des Dichters: Das Typische innerhalb der Gesellschaft an einem Einzelfall zu demonstrieren. Die Debatte, ob der Dichter den Moralzustand der Gesellschaft nur beschreiben oder sich als Richter darfiber erheben soll, diskutiert er in einem Brief vom 10. Februar 1891 an Paul Pollack: Dem von Ihnen geauBerten Bedenken bin ich Anfang der 80er Jahre, wo die Novelle erschien, vielfach begegnet, und ich habe mich nie dagegengestellt. Dennoch bin ich unbekehrt geblieben und wfirde es jetzt geradeso schreiben wie vor 10 Jahren. Ich glaube, beide Parteien haben recht, und der Streit ist nichts als das Resultat zweier gegenfiber- stehender Kunstanschauungen. Soll die Kunst den Moralzu- stand erhalten oder bessern, so haben Sie recht, soll die Kunst einfach das Leben widerspiegeln, so habe ich recht. Ich wollte nur das letztre. Die Geschichte verlief so, und die Dame, um die sich's handelt, sitzt unter einer Menge von Balgen, geliebt und geachtet, bis diesen Tag oben in OstpreuBen. wahrend seiner Arbeit an L'AddZterd schrieb er am 14. Januar 1880 an Paul Lindau: Ich schreibe heute wegen einer Novelle, mit der ich im Brouillon eben fertig bin . . . Es wird niemand gefeiert, noch weniger gelastert, und wenn ich bemfiht gewesen bin, das Leben zu geben, wie es liegt, so bin ich nicht minder bemfiht gewesen, das UtteiZ zu geben, wie es liegt. Das heiBt im Letzten und nach lange schwankender Meinung, freundlich und versdhnlich. Dieser Brief beweist, daB Fontane nicht ohne weiteres gewillt war, 88 seiner Heldin ein "Happy End" zu gfinnen. Etwas spater, in einem Brief vom 5. Marz 1883 an seine Tochter, schreibt er aus einer etwas anderen Perspektive fiber das Thema "L'Adultera": . .. sagte mir [Baronesse Anker] viel Verbindliches fiber L'Adultera, was mir aufs Neue bestatigte, daB die Geschichte ffir natfirliche und anstandige Menschen keine Spur von Bedenklichem enthalt; sie nehmen es einfach als dds, als was ich es gegeben habe: ein Stfick Leben, ohne jede Neben- Absicht oder Tendenz. war' ich nur 10 Jahre jfinger, so ware ich auch sicher, daB ich damit durchdringen und in so weit sogar besser als Turgenjew und Zola (wenn auch selbst- verstandlich mit geringrem auBrem Erfolge) reussiren wfirde, als meine Schreibweise von zwei Dingen vfillig frei ist: von Uebertreibungen fiberhaupt und vor allem von Ueber- treibungen nach der Seite des HaBlichen ist. Ich bin kein Pessimist, gehe dem Traurigen nicht nach, befleiBige mich vielmehr alles in jenen Verhaltnissen und Prozentsatzen zu belassen, die das Leben selbst seinen Erscheinungen giebt. ware Melanie ein unglfickliches Ende beschieden, ware die Kritik an diesem Stoff viel positiver ausgefallen. Fontane ffihlte, daB er das "Happy End" sogar vor seinem langjahrigen Freund Georg Fried- laender verteidigen muBte. In einem Brief vom 28. Marz 1889 schrieb er: "So gut wie mit der Frau Rdvené, die als Frau Simon ein neues, besseres Leben anfing, - so gut schlieBt es nicht immer ab. Ja der Frau Ravené-Fall ist ein Ausnahmefall." Vielleicht diente diese Kritik als AnstoB, den nachsten Ehebruch-Roman Effi Briest tragisch enden zu lassen, obwohl das Vorbild ffir Effi, eine Elisabeth Freiin von Plotho, erst kurz vor ihrem 100. Geburtstag starb. AuBer Irrungen Wirrungen tragen alle ”Berliner Romane" den Namen der Frauenfigur, die die Haupttragerin der Handlung ist. In L'Addltera haben wir eine Ausnahme, die aber nicht unbedingt vom Dichter gewollt war, wie wir aus seiner Korrespondenz mit seinem Verleger Salo Schottlander vernehmen kfinnen. In einem Brief vom 11. September 1881 schreibt er: 89 Was den Titel angeht, so proponier' ich Wiederherstellung der alten und ursprfinglichen Ueberschrift: Melanie Vdn der Straaten. Zu "L'Adultera" lieB ich mich bestimmen, weil das Spiel mit dem L'Adultera-Bild und der L'Adultera-Figur eine kleine Geistreichigkeit, ja was mehr ist: eine rundere Rundung in sich schliest. In dieser Gegenfiberstellung und Parallele lag etwas Verlockendes, das mich anderweite Bedenken zurfickdrangen lieB. Aber freilich, diese Bedenken sind mir immer wiedergekommen und haben ihren Grund darin, daB es mir aufs auBerste widerstand und noch widersteht, einer noch lebenden und trotz all ihrer Fehler sehr liebens- wfirdigen und ausgezeichneten Dame, das grobe Wort "L'Adultera" ins Gesicht zu werfen. Es ist zwar alles verschleiert, aber doch nicht so, daB nicht jeder die Gestalt errathen kfinnte. Ob die Titelverleihung ein MiBgriff war oder nicht, sei offengelassen. Auf alle Falle ist die Titulierung ein Vermachtnis aus der "Schicksals- literatur“ des 19. Jahrhunderts (wie auch die metaphorische Schenkung des Tintoretto-Bildes) und gibt dem Werk eine Wende ins Symbolische. Diese Deutlichkeit steht dem organischen Abrollen des Romangeschehens etwas im Wege. Helene Herrman nennt in ihrem fiberdehnten Fontane- Aufsatz das Werk "kein erfreuliches Produkt" und wirft Fontane vor, zu viel Symbolik im Leitmotif zusammengefaBt zu haben und mit dem glficklichen Ende nach einem moralischen Fehltritt die sittliche MaBstabe und Erwartungen seiner Leser verletzt zu haben.3 Sogar in der neueren Sekundarliteratur findet L'AddZtera nicht immer positiven Anklang. Peter Demetz schreibt: Ich ffirchte allerdings, L'AddZtera leidet auch an anderen Unzulanglichkeiten und Inkonsequenzen, die die unsichere Hand des alternden Anfangers verraten.. .. Der Erzahler drangt die Figuren noch an den Rand der Gesellschaft und nimmt dem Konflikt, indem er seine Figuren indirekt zu AuBenseitern erklart, manches an reprasentativer Gfiltigkeit; sein Verfahren, die eingeborenen Mitglieder der guten preuBischen Gesellschaft zugleich als hausbacken und ein wenig tfiricht darzustellen, vermag der fundamentalen Ver- schiebung nicht entscheidend und erfolgreich entgegenzu- wirken. Merkwfirdig, wie rasch Fontanes Interesse im Ver- laufe des Erzahlens erlahmt: sobald van der Straaten aus Melanies Gesichtskreis verschwindet, steigern sich Unwahr- scheinlichkeit und Sentimentalitat ins fast Unertragliche; 9O ja der Erzahler verfallt in seinen Simplizitatsstil (den er sonst Legenden, Balladen und Marchen zuordnet) und der innere Bruch wird unheilbar; was als "realistische" Ehe- geschichte aus besseren Kreisen beginnt, endet als Marchen vom Auslandskorrespondenten Rubehn und der Sprachlehrerin Melanie in einer eben noch standesgemaBen Wohnung, aber tief unter Fontanes Niveau.“ Obwohl Fontanes Aufmerksamkeit der Gestalt Melanies galt, konzentriert Demetz seine Analyse auf die starkere mannliche Persfinlichkeit van der Straatens und sieht in ihr die Hauptfigur des Werkes. Schon Conrad Wandrey bemerkt in seinem Werk fiber Fontane, daB van der Straaten nur eine Kontrastfigur ist, "die Sein und Sinn der Heldin steigert."5 Melanie ist nur skizzenhaft gezeichnet, um das behutsame Wachsen ihrer eigenen Persfinlichkeit damit anzudeuten. Ihr eigenes Leben beginnt erst dann, als sie sich von der dominierenden Persfinlichkeit ihres Mannes befreit. Ganz anders als in Effi Briest, wo wir Effis Herkunft und Kindheit erfahren, interessiert sich Fontane ffir den Charakter Melanies erst in deren zehntem Ehejahr. Sie ist mit Kommerzienrat van der Straaten verheiratet. Dieser ist zu der Zeit zweiundffinfzig Jahre alt und einer der vollgfiltigsten Finanziers der Hauptstadt, eine Tatsache, die dadurch wenig alteriert wurde, daB er mehr eines geschaftlichen als eines persfinlichen Ansehens genoB. An der Bfirse galt er bedingungslos, in der Gesellschaft nur bedingungsweise.. .. Er haBte zweierlei: sich zu genieren und sich zu andern.6 Melanie hat ihn im Alter von siebzehn Jahren geheiratet, (was Effi und Melanie gemeinsam haben). Durch den groBen Altersunterschied liegt es van der Straaten nahe, seine Gemahlin fifters als seine Tochter zu betiteln. Er empfindet das selbst offenbar als pikant. da er immer wieder ausdrficklich hervorhebt, wie sehr es ihm gefalle, die Honneurs seines Hauses .. . durch eine Melanie machen lassen zu kfinnen, durch eine Melanie, die, zu weiterem Unterschiede, nicht seine Tochter, 91 sondern sein "Gemahlin" sei. Und dies Wort sprach er dann mit einer gewissen Feierlichkeit, in der Scherz und Ernst geschickt zusammenklangen. Aber der Ernst fiberwog, wenigstens in seinem Herzen. Und es konnte nicht anders sein, denn die junge Frau war fast noch mehr sein Stolz als sein Glfick. . .. war sie ganz und gar als das verwfihnte Kind eines reichen und vor- nehmen Hauses groBgezogen und in all ihren Anlagen aufs glficklichste herangebildet worden. Ihre heitere Grazie war fast noch grfiBer als ihr Esprit, und ihre Liebenswfirdig- keit noch grfiBer als beides. Alle Vorzfige franzfisischen Wesens erschienen in ihr vereinigt (L'Adultera, S. 8). Bei oberflachlichem Hinblicken sieht die Ehe glficklich aus. Melanie scheint alle ihre irdischen Gfiter zu genieBen. Doch schaut man naher hin, entdeckt man eine verwfihnte Frau, die, isoliert vom Leben in der kfinstlichen Atmosphere eines "Puppenhauses", wie aus einem Kafig auf das Leben von ihrem Fenster aus hinunterblickt. Bei dem Anblick eines Kutschers "mit Vollbart und Lederschurz" wird sie sentimental: "'Wie schfin diese Leute sind.. .. Und so stark'" (L'Adultera, S. 11). Auch der Anblick tanzender Schneeflocken erinnert sie an ihre eigene Gebundenheit, "als mfisse es schon sein, so zu steigen und zu fallen und dann wieder zu steigen.. ." (L'Adultera, S. 11). Diesen Luxuskafig schmfickt Herr van der Straaten mit Kopien alter Meister, seine neueste Anschaffung ist Tintorettos beziehungsreiches Gemalde "L'Adultera". Melanie ffihlt sich von diesem Bild provoziert und gleichzeitig angeregt: “Und ich kann mir nicht'helfen, es liegt so was Ermutigendes darin. Und dieser Schelm von Tintoretto hat es auch ganz in diesem Sinne genommen. Sieh nurl. .. Geweint hat sie. .. GewiB. .. Aber warum? Weil man ihr immer wieder und wieder gesagt hat, wie schlecht sie sei. Und nun glaubt sie's auch, oder will es wenigstens glauben. Aber ihr Herz wehrt sich dagegen und kann es nicht finden. .. Und daB ich dir's gestehe, sie wirkt eigentlich rfihrend auf mich. Es ist so viel Unschuld in ihrer Schuld. .. Und alles wie vorherbe- stimmt" (L'Adultera, S. 12-13). Aus diesen Kunstbetrachtungen zieht Melanie spater ihre eigenen Schlfisse, indem sie ihr eigenes Handeln vor sich selbst rechtfertigt. 92 Fontane kannte das Tintoretto Original von seinem Italienbesuch. Eine Kopie dieses Gemaldesbefand sich im Museum in Dresden. Doch dem preuBischen Fontane lag das sfidlich Sensuelle der italienischen Kunst nicht so sehr. Aus Venedig schrieb er am 10. Oktober 1874 an die Familie Zfillner fiber seinen Besuch im Dogenpalast: Au fond ist alles tieflangweilig und als ich schlieBlich in der kleinen Dogen-Kapelle einem Albrecht Dfirerschen Christuskopfe begegnete, athmete ich auf; dieser eine Kopf reprasentirt in meinen Augen mehr wahre Kunst, als alle Tintorettos zusammengenommen. Es ist paradox, daB van der Straaten, dieser "echte Berliner", sich mehr ffir die sfidliche Kunst interessiert. Doch in diesem KunstgenuB versteckt sich eine sfidlandisch-chauvinistische Einstellung den Frauen gegenfiber. wahrend eines der ausgiebigen Dinners im Hause van der Straaten erfahren wir mehr fiber seine Ansichten: "Ich unterscheide namlich, wie du wissen solltest, kalte und warme Madonnen. Die kalten sind mir allerdings ver- haBt, aber die warmen hab ich desto lieber. A la bonne heure, die berauschen mich, und ich ffihl es in allen Fingerspitzen, als ob es elfer Rheinwein ware. Und zu diesen glfihenden und sprfihenden zahl ich all diese spanischen Immaculatas und Concepciones, wo die Mutter Gottes auf einer Mondsichel steht, . .. dergleichen gibt es. Und so blickt sie brfinstig oder sagen wir lieber in- brfinstig gen Himmel, als wolle die Seele flfigge werden in einem Brfitofen von Heiligkeit" (L'Adultera, S. 27). Es dauert nicht lange, bis er dieses Madonnen-Sujet zum Thema der Frau als Venus ausdehnt; aus den kleinen Engeln, welche die Madonnen umrahmten, werden kleine Bogenschfitzen. ,Melanie weiB, worauf ihr Mann steuert: aus dem Tischgesprach fiber die Kunst entwickelt er einen Monolog fiber die Erotik in der Kunst. Von den kfihlen Murillo- Madonnen geht er fiber zu Tizians Venus. Analog zu seinen eigenen erotischen Interpretationen der erworbenen Gemalde, sieht van der Straaten auch die Frau als erotischen Besitz an, der nur dazu dient, die Sinne des Eigners zu befriedigen: "'Auf Frau Venus versteht er 93 sich. Das ist seine Sache. Fleisch, Fleisch. Und immer lauert irgendwo der kleine, liebe Bogenschfitze'" (L'Adultera, S. 28). Das ganze Thema dient dazu, den Kontrast zwischen der kfihlen Melanie und dem hitzigen, ungehobelten van der Straaten aufzubauen. Nach dem Essen (in dem Kapitel "Auf dem Heimwege") haben die Gaste die Mfiglichkeit, sich fiber ihren Gastgeber zu unterhalten: "Es war doch wieder eine recht peinliche Geschichte heute. Finden Sie nicht? Und ehrlich gestanden, ich begreife ihn nicht. Er ist doch nun Ffinfzig und darfiber und sollte sich die Hfirner abgelaufen haben. Aber er ist und bleibt ein Durchganger" (L'Adultera, S. 35). Melanie wird bemitleidet: "Glaube mir, sie ffihlt es. Und sie tut mir leid. Du lachelst so. Dir nicht?" "Ja und nein, ma chére. Man hat eben nichts umsonst in der Welt. Sie hat eine Villa und eine Bildergalerie" (L 'Adultera, S. 34) . Melanie bedeutet ffir ihren Mann einen Teil der Luxusausstattung der Villa, wie die Bildergallerie. Van der Straaten erzieht sie nach seinem Gutdfinken, ahnlich wie Innstetten die Erzieherrolle Effis fibernimmt. Wenn sie sich seinen Erwartungen entsprechend an Kunst- diskussionen beteiligt, lobt ihr Mann sie mit vollem Lehrerstolz: "'Brav, brav. Ich hab es immer gesagt, daB ich noch einen Kunst- professor in dir groBziehe'" (L'Adultera, S. 28). Trotz auBeren Luxus ist Melanie nicht glficklich. Anzeichen ehelicher Dissonanzen sind daran ersichtlich, daB Melanie alleine in die Sommerresidenz zieht, zu der van der Straaten "nur jeden dritten Tag als Gast" erscheint (L'Adultera, S. 37). Er nennt dies die ihm nachgezahlten Flitterwochen seiner Ehe.. .. Melanie hfitete sich wohl, zu widersprechen, war vielmehr die Liebens- wfirdigkeit selbst, und genoB in den zwischenliegenden Tagen das Glfick ihrer Freiheit.. .. Da hatte sie Ruhe vor seinen Liebesbeweisen und seinen Ungeniertheiten. .. (L'Adultera, S. 37). 94 Melanie sucht nicht die physische Nahe ihres Mannes, sondern ist am glficklichsten. wenn sie alleine sein kann. Fontane hat die menschliche Isolierung Melanies sehr sorgfaltig motiviert. Sie ist nun psychologisch bereit, eine menschliche Begeg- nung als befreiend zu empfinden. In ihre Einsamkeit tritt Ebenezer Rubehn, ein Geschaftsbekannter ihres Mannes. Fontane begleitet dessen erstes Auftreten mit erotischer Wagner-Musik, denn aus dem benach- barten Hause klingt "Wotans Abschied", wie um das entstehende Dreieck: altlicher Ehemann - junge Frau mit Liebhaber zu ironisieren. Ebenezer macht gleich einen angenehmen Eindruck auf Melanie, "die durch die ganze Begegnung ungewfihnlich erfreut und angeregt war" (L'Adultera, S. 44). Melanies Kind nimmt nicht an dem Glfick ihrer Mutter teil, es ahnt den Einbruch in die Familiengemeinschaft, den Verlust der Mutter, "undirlihrem groBen Auge stand eine Trane" (L'Adultera, S. 44). GewiB ist dies keine kunstvolle Beschreibung der Reaktion eines Kindes von Fleisch und Blut, sondern noch ein Verhaften in dfisterer Schicksals- atmosphere. Fontane lfist diese Aufgabe fiberzeugender in dem Roman Effi Briest, wo die Reaktion des Kindes auf die lange Abwesenheit der Mutter natfirlicher wirkt. Wie fiblich, wenn Fontane sich anschickt, einen Hfihepunkt zu ge- stalten, gibt es eine Landpartie. Dies ermfiglicht dem Dichter, das Dreieckverhaltnis in eine dem Leser verstandliche Perspektive zu bringen. Van der Straaten halt gewohnheitsgemaB Vortrage fiber Frauen und die Ehe, aber diesmal gerat Melanie in eine innere Unruhe fiber sein ungeschicktes Benehmen: Ihres Gatten Art und Redeweise hatte sie, durch all die Jahre hin, viel Hunderte von Malen in Verlegenheit gebracht, 95 auch wohl in bittere Verlegenheiten, aber dabei war es geblieben. Heute, zum ersten Male, schamte sie sich seiner (L'Adultera, S. 56). Durch die Anwesenheit eines Dritten, Ebenezer Rubehn, wird in Melanie eine Form von Selbsterkenntnis ausgelfist, deren erste Reaktion Scham ist. In diesem Stadium eines erwachenden SelbstbewuBtseins verlaBt Melanie den sicheren Boden ihrer bisherigen Welt und begibt sich in dem Kapitel mit der etwas schwerfallig klingenden Oberschrift "Wohin treiben wir" mit Ebenezer Rubehn auf eine Kahnfahrt. Symbolisch aus- gedrfickt ist es der schwankende Boden, auf dem sich das neue, im Entstehen begriffene Ich Melanies unabhangig von ihrer alten Umgebung behauptet. Rubehn fungiert als Katalysator von Melanies "alter ego". Sein SelbstbewuBtsein und seine Selbstsicherheit treiben Melanie vorwarts. Die am Strande Zurfickgebliebenen unterhalten sich fiber die Kahnfahrer. Die Freundin Melanies, Riekchen, gibt zuerst eine nahere Beschreibung von Rubehn: "Er hat aber auch etwas Reserviertes. Und wenn ich sage, was Reserviertes, so hab ich noch sehr wenig gesagt. Denn Reserviertsein ist gut und schicklich. Er fibertreibt es aber. Anfangs glaubt ich, es sei die kleine gesellschaft- liche Scheu, die jeden ziert, auch den Mann von Welt, und er werd es ablegen. Aber bald konnt ich sehen, daB es nicht Scheu war. Nein, ganz im Gegenteil. Es ist SelbstbewuBt— sein'l (L'Adultera, S. 59) In der Zwischenzeit treiben die beiden mit dem aufklingenden Lied Long, long ago auf die Mitte des Flusses zu, wo sie "auBer Hfirweite" zum ersten Male die Gelegenheit haben, ungestfirt miteinander zu Sprechen. Melanie ffihlt sich unabhangig genug, ohne Scheu, fiber das Verhaltnis mit ihrem Manne zu sprechen, woffir sie auf festem Boden nie den Mut gehabt hatte: "'Er ist eben unerreichbar und weiB so wundervoll alles zu treffen, was krankt und bloBstellt und beschamt'" (L'Adultera, S. 60). Auf Rubehns Reaktion, "'Sie dfirfen 96 sich nicht verbittern'", antwortet sie: "'Ich verbittere mich nicht. Aber ich bin verbittert. Und weil ich es bin und es 105 sein mfichte, deshalb sprech ich so'" (L'Adultera, S. 60). Ihre sich klarer formulierende Kritik an van der Straaten unterbricht Rubehn: jener sei "'anders als andere. Aber er liebt Sie, glaub ich. .. Und er ist gut'" (L'Adultera, S. 60). Das sind Worte, die Melanie nicht hfiren will, denn ein Mann, "der gut ist", ist noch lange kein sensibler Ehemann, der seine Frau als etwas anderes als ein ihm angehfirendes Eigentum betrachtet. Die Reaktion Melanies ist dementsprechend: "Und er ist gut", wiederholte Melanie heftig und in beinahe krampfhafter Heiterkeit. "Alle Manner sind gutl. .. Und nun fehlt nur noch der Zwirnwickel und das FuBkissen mit dem Symbol der Treue darauf, so haben wir alles wieder beisammen. O Freund, wie konnten Sie nur dds sagen, und, um ihn zu rechtfertigen, so ganz in seinen Ton verfallen!" (L'Adultera, S. 60). Dies wird mit solcher Vehemenz gesprochen, daB Rubehn bemerkt, '"daB sie fieberte.'" Fontanes Frauen - man erinnere sich nur an Cecile - geraten im Affekt in einen fiebrigen Zustand, wenn immer Emotionen Gewalt fiber ihren Kfirper gewinnen. Van der Straatens haufige Abwesenheit gibt Rubehn und Melanie die Gelegenheit,ihre Freundschaft zu vertiefen. Vom Wasser ffihrt Fontane das Paar in die schwfile Atmosphare eines Treibhauses, einen Teil des stattlichen Besitzes van der Straatens: Wenige Schritte noch, und sie befanden sich wie am Eingang eines Tropenwaldes, und der machtige Glasbau wfilbte sich fiber ihnen. Hier standen die Prachtexemplare der van der Straatenschen Sammlung: Palmen, Drakaen, Riesenfarren, und eine Wendeltreppe schlangelte sich hinauf.. ." (L'Addl- tera, S. 72). Das ist eine von der gewfihnlichen Welt isolierte Umgebung, wie ge- schaffen ffir ein intimes Stelldichein: Es atmete sich wonnig aber schwer in dieser dichten Laube; dabei war es, als ob hundert Geheimnisse sprachen, 97 und Melanie ffihlte, wie dieser berauschende Duft ihre Nerven hinschwinden machte. .. . aber diese weiche, schlaffe Luft machte sie selber weich und schlaff; und die Rfistung ihres Geistes lockerte sich und lfiste sich und fiel (L'Adultera, S. 73). Diese fibersteigerte Symbolik verzerrt wohl Fontanes literarische Absicht: als ob die Rfistung ihres Geistes sich in einem nfichternen groBstadtischen Milieu nicht gelockert hatte! Fontane bereitet uns auf folgenschwere Ereignisse vor. Diesmal verwendet er keine Wagnerschen Tfine, um ein erotisches Motiv anzu- deuten, sondern ein kfinstlich tropisches Milieu: "Und nun wollte sie sich erheben. Aber er litt es nicht und kniete nieder und hielt sie fest, und sie flfisterten Worte, so heiB und so sfiB, wie die Luft, die sie atmeten" (L'Adultera, S. 73). Weniger Pathos ware hier glaubwfirdiger. Das ist sicher nicht eine der gelungensten Liebes- szenen in der europaischen Literatur. Obwohl die beiden erst wieder beim Herabsteigen von der schwfilen Liebesinsel sichtbar werden, ist das Ehebruchmotiv voll ausgestaltet. Die Hausdame Anastasia empfangt die Zurfickkehrer mit dem oft zitierten Satz: "'Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen'" (L'Adultera, S. 73). Der ganz mit sich selbst beschaftigte van der Straaten ffihlt die Veranderung in seiner Frau nicht, da er "mehr denn je seinen kleinen und groBen Eitelkeiten nachhing" (L'Adultera, S. 74). Seinen Gasten aber fallt eine Ver- anderung in Melanies Gesicht auf: "Etwas unendlich Weiches und Wehmfitiges lag in dem Ausdruck ihrer Augen, und der Polizeirat sagte zu Duquede: 'Sehen Sie, Freund, ist sie nicht schfiner denn je?'" (L'Adultera, S. 77). Bei einem zuffilligen Zusammentreffen, diesmal in einem sehr gewfihnlichen Alltagsmilieu, als Melanie im Begriff ist, einen Ein- kaufsbummel zu machen, sieht Rubehn sie wieder,